Der Kuss des Greifen
entgegen. Nerea stand am Ofen, um es herauszuholen. Sie schrubbte die Arbeitsfläche und beseitigte Teigspuren aus einer Schüssel.
Lysandra war froh darüber, dass Nerea sie nicht mit Fragen löcherte. Unglücklicherweise währte die Ruhe nicht lange, denn kaum, dass sie sich an den Tisch gesetzt hatte, klopfte es bereits an der Tür. War es gar der Vermieter oder schlimmer noch Nikodemos? Beide konnte sie gerade überhaupt nicht gebrauchen. Hatte man denn hier überhaupt nie seine Ruhe?
Wieder erklang ein Klopfen von der Tür, diesmal dringlicher.
Lysandra erhob sich. »Gehe du in die Frauengemächer«, sagte sie zu Nerea. Sie begab sich zur Tür und öffnete sie. Zu ihrer Überraschung stand Aiolos davor.
Er drängte sich an ihr vorbei. Gehetzt blickte er sich im Raum um. Als er nur Nerea erblickte, die sich rasch einen Schleier über das Haar gezogen hatte, erschien er zuerst irritiert, atmete dann aber erleichtert auf. »Kann ich ein paar Tage bei Euch unterkommen, Lysandros?«
»Der kommt mir nicht ins Haus!«, sagte Nerea.
Warum, bei Jupiter, war Nerea nicht in die Frauengemächer gegangen? War es nicht sie gewesen, die ständig davon sprach, dass Frauen nicht anwesend sein durften, wenn Männer zu Besuch waren? Offenbar traute sie Lysandra selbst in ihrer Verkleidung nicht, mit einem Mann allein in einem Raum zu sein, ohne sich unanständig zu benehmen.
Lysandra konnte nicht so unhöflich sein, Aiolos der Tür zu verweisen.
Sie starrte Nerea an. »Aber, Mutter, lass uns erst anhören, was er zu sagen hat.« Dann wandte sie sich an Aiolos. »Was ist geschehen?« Lysandra schloss die Tür, damit niemand ihr Gespräch belauschen konnte.
»Nichts.«
»Nichts?«, fragte ihre Ziehmutter. »Ha! Wers glaubt! Es werden ihn wieder ein paar Leute verfolgen aufgrund seiner Betrügereien und dunklen Zauberei.«
Aiolos sah Nerea von oben herab an. »Was auch immer man mir anzuhängen versucht: Ich habe niemals Schadenzauber bewirkt!«
»Und was ist mit dem Ausschlag der Witwe Euphoria?«
»Der verschwindet wieder, sobald sie das Richtige tut.«
Nerea stemmte die Hände in die Hüfte. »Und was ist das Richtige?«
»Das weiß Euphoria selbst am besten.«
Nerea wandte sich an Lysandra. »Da! Hab ichs nicht gesagt? Der ist nicht seriös.«
»Ich muss Euch leider enttäuschen, Aiolos. Ich kann Euch nicht helfen, denn ich muss verreisen«, sagte Lysandra.
»Verreisen?«, fragten Nerea und Aiolos wie aus einem Mund und starrten Lysandra an.
Nerea trat näher zu ihr heran. »Du kannst mich nicht hier allein lassen. Nicht jetzt.«
»Ich muss diese Reise antreten.« Auf dieser Reise konnte sie sich endlich beweisen und zeigen, dass mehr in ihr steckte als ein Jüngling, der zwar offiziell das Familienoberhaupt war, doch niemals wirklich tun konnte, was er wollte. Zudem würde sie Cel und Sirona helfen können, damit wenigstens diese leben konnten. Danach konnte sie immer noch ihr Leben hier fristen. Womöglich würden ihr die Erinnerungen an die Erlebnisse auf der Reise über die langen Jahre der Einsamkeit, die noch kommen würden, hinweghelfen.
Nerea atmete hektisch. Rote Flecken zeigten sich auf ihrem Gesicht. »Du hast dein Leben und unsere Zukunft aufs Spiel gesetzt? Wie konntest du nur?«
»Sorgst du dich um mein Leben oder um deine Freiheit? Du hast nur noch ein paar Jahre, doch was ist mit mir?«, fragte Lysandra.
Nereas Kinnlade klappte nach unten. »Ich habe dir das Leben gerettet. Ist das nun der Dank dafür?«
Lysandra senkte den Blick. »Denkst du, ich wünsche mir ein Leben, in dem ich niemals ich selbst sein kann, ein Leben in Einsamkeit und ohne die Liebe?«
»Die Liebe? Du willst heiraten? Habe ich dir nicht oft genug erzählt, wie mein Mann mich geschlagen hat? Anfangs war ich traurig darüber gewesen, dass er zu anderen Frauen ging, doch später erwies es sich als eine Gnade. Wenn er sich anderen zuwandte, ließ er mich wenigstens in Ruhe und ich war froh darüber. Ist es das, was du willst? Unterjochung und Schmerz, geschweige denn diese endlosen Demütigungen?«
Lysandra schluckte. »Nicht alle Männer sind so.«
Nerea lachte, doch es klang freudlos. »Du wirst dich meiner Worte noch erinnern, wenn du ebenso leidest, wie ich es getan habe. Niemals, niemals begib dich unter die Herrschaft eines Mannes! Das ist ein großer Fehler!«
»Und was ist mit Leonidas? Er hat dich niemals unterjocht War er denn kein Mann?«
»Er war nicht mein Mann, sondern hat sich als mein vermisster Onkel
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