Der Kuss des Greifen
Bedürfnisse einsamer phönizischer Seeleute gekümmert. Einer davon ist sein Vater.«
Lysandra grinste. »Das kann ich mir vorstellen.«
»Ganz Delpoí ist voller Hellenen. Warum willst du ausgerechnet mich?«
»Weil du diese besondere Gabe besitzt, wir nicht noch mehr Leute einweihen wollen und du mir vertrauenswürdig erscheinst. Außerdem willst du den Lohn für die Beseitigung des Drachen haben. Oder zumindest die Ehre.«
»Merkwürdig, denn von dieser Gabe habe ich noch nichts bemerkt. Im Gegenteil, ich scheine der unbegabteste Bewohner von ganz Delphoí zu sein«, sagte sie betrübt. »Der Ruhm und das Geld sind mir gleichgültig. Ich wollte nur meinen Ruf als Feigling und Schwächling loswerden. Jetzt behaupten sie, ich hätte mich nicht mal auf den Berg getraut.«
»Wer sagt das?«
»Nikodemos und meine Familie. Morgen sagt es bestimmt die ganze Stadt.«
Cel ließ seinen Blick über sie gleiten. »Gar nicht freundlich von ihnen. Wenn man eine solche Familie hat, braucht man keine Feinde mehr. Was hast du also noch zu verlieren? Wir segeln gen Westen und betreten das Totenreich, um Sirona und mich in normale Menschen zurückzuverwandeln.« Sofern man jemanden, der die Geister der Verstorbenen sah, als normalen Menschen bezeichnen konnte.
Lysandra runzelte die Stirn. »Wie wollen wir gen Westen segeln? Wir haben doch nicht mal ein Schiff! Ich finde das Ganze nicht richtig durchdacht.«
»Sirona und ich machen uns ständig Gedanken darüber. Wir werden schon eine Lösung finden.«
Ihre Lage war so verzweifelt, dass er jede Möglichkeit ergreifen würde. Irgendeinen Weg würde er schon finden.
»Dann stehlen wir eben eines!«, sagte Sirona.
»Und rudern für einhundert Mann?«, fragte Lysandra kopfschüttelnd. »Und mit einem winzigen Fischerboot kommt ihr nicht weit.«
»Dann werden wir uns eben eine Überfahrt auf einem großen Schiff besorgen. Das wird ja nicht unmöglich sein«, sagte Cel.
»Natürlich. Wenn ihr zur Ablenkung ein paar seltsame bunte Gewänder tragt, fällt es gewiss niemandem auf, dass ihr ein Greif und eine Katze seid.«
»Warum können wir nicht einfach fliegen?«, fragte Sirona.
»Du warst noch nie mit mir dort oben, Kleines, sonst wüsstest du, wie kalt es ist. Hinzu kommt der Flugwind. Bevor wir ein paar Hügel überflogen haben, seid ihr alle erfroren. Du vielleicht nicht, Sirona, wegen deines Fells, doch wir brauchen Lysandros.«
»Dann reisen wir eben übers Land«, sagte Sirona.
Cel schüttelte den Kopf. »Das, was sie hier als Straßen bezeichnen, sind halsbrecherische, steinige Strecken, wo an jeder Ecke und hinter jedem Hügel Halsabschneider und Diebe lauern.«
Die Katze sträubte ihr Fell. »Klingt nicht besonders verlockend.«
Lysandra betrachtete das weiße Tier. »Es fahren doch ständig Schiffe von Kirra aus weg. Wenn wir etwas Geld oder andere Tauschwaren auftreiben können, nehmen sie uns vielleicht mit.« Oder wenn sie sich als Ruderer anheuern ließen. Doch wer würde jemanden nehmen, der so dürr war wie Lysandra? Oder eine Katze und einen Greifen?
Sirona schüttelte sich. »Wir müssen so weit in den Westen wie möglich. Ich sehe uns schon die gesamte Strecke lang rudern. Oder besser gesagt euch. Mit meinen Pfoten geht das schlecht.«
»Diskutiere ich jetzt wirklich mit einer Katze und einem Greifen, wie man am besten ins Totenreich gelangt?«
Cel schüttelte den Kopf. »Wir diskutieren nicht, wir stellen Fakten fest, und diese besagen, dass du mit uns kommen wirst.«
»Und wenn ich das nicht will?«
»Willst du, dass Sirona viel zu jung stirbt? Außerdem denk an dich selbst: Welche Zukunft erwartet dich hier?«
Lysandra wirkte plötzlich nachdenklich. Schatten legten sich über ihr Gesicht. »Ich habe nichts zu verlieren, als mein Leben, doch aus dem Totenreich kehrt man für gewöhnlich nicht wieder zurück.«
»Wir werden es, denn wenn wir es nicht wagen, ist Sirona trotz ihrer Jugend in wenigen Jahren tot. Ich bitte dich inständig, mit uns zu kommen und uns zu helfen«, sagte Cel.
Als er die Betroffenheit in Lysandras Blick erkannte, beschlichen ihn Gewissensbisse. Konnte er Lysandras Leben riskieren für das seiner Schwester? Doch konnte er Sirona ihr Leben verweigern, indem er sie nicht von dem Zauber befreite, den sie durch seine Schuld auferlegt bekam?
Gleichgültig was er tat, es war immer falsch.
Kapitel 6
Lysandra wurde sich der Unausweichlichkeit ihrer Entscheidung bewusst, während sie grübelnd den
Weitere Kostenlose Bücher