Der Kuss des Greifen
Berg hinunterlief.
Wenn sie jedoch ehrlich zu sich selbst war, so war sie froh über Cels Hartnäckigkeit. Einerseits hatte sie derartige Schuldgefühle hinsichtlich der Reise verspürt, dass sie sich regelrecht gewünscht hatte, er würde sie umstimmen, andererseits lastete die Verantwortung für Nerea auf ihr. Nerea, die sie aufgezogen hatten. Wer weiß, ob Lysandra ohne sie überlebt hätte! Sie stand in ihrer Schuld.
Andererseits hatte Nerea ihr – wenn auch aus einer Notlage heraus – die Zukunft genommen, zusammen mit ihrer Identität als Frau. Sie hatte Lysandra von vorneherein als Jungen ausgegeben, da der Spartaner Leonidas, den alle fälschlicherweise für Nereas Verwandten und somit Haushaltsvorstand hielten, alt gewesen war und sie mit seinem Ableben rechnen musste. Sobald sie, Lysandra, volljährig war, sollte sie die Führung der Familie übernehmen, anstelle von Nereas bösem Schwager oder Damasos, der seinem herrischen Vater von Tag zu Tag ähnlicher wurde. Auch rechnete Nerea wohl damit, dass Lysandra ihr nicht nur mehr Freiheiten lassen, sondern auch tun würde, was diese von ihr verlangte. Genau so war es geschehen.
Doch was war mit Lysandras Freiheit und Leben? Nerea wollte nicht, dass Lysandra große Taten vollbrachte, aus Angst, ihr würde etwas zustoßen, was ihre eigenen Pläne in Gefahr bringen könnte. Doch fürchtete Nerea sich tatsächlich um Lysandra oder nur um ihre eigene Freiheit?
Sie wollte das Beste im Menschen sehen, doch konnte sie dies nicht länger verdrängen. Mit jedem Jahr, das verging, verspürte Lysandra die Sehnsucht nach der Liebe eines Mannes in zunehmendem Maße. Sie wünschte sich Kinder, doch würde sie niemals welche bekommen. Im Winter wurde sie dreiundzwanzig Jahre alt. Die anderen Frauen waren in diesem Alter bereits viele Jahre lang verheiratet und hatten zahlreiche Kinder oder waren gar im Kindbett gestorben. Zugleich machte sie sich keine Illusionen über die Ehe. Den Ehemann wählte allein das Familienoberhaupt aus. Sie als Frau hatte so gut wie nichts zu sagen. Dennoch war dies einem Leben in Einsamkeit, das nicht wirklich das ihre war, womöglich vorzuziehen.
Als Jungfrau würde sie ins Grab gehen. War es das, was sie wirklich wollte? Aber schuldete sie dieses Leben nicht Nerea, die es ihr gerettet hatte?
Nerea würde eines Tages sterben und sie wäre allein. Ihre bis dahin verheirateten Ziehgeschwister hätten ihre eigenen Familien und gewiss wenig Interesse an ihr. Sie wäre der seltsame, alte Onkel, der einsam in einer Hütte am Waldrand hauste und irgendwann mit sich selbst und den Wänden sprach.
So gesehen war sie froh, dass Cel sie zu dieser Reise überredet hatte. Lysandra freute sich bereits darauf, etwas anderes zu sehen und zu erleben. Sie würde aus Delphoí herauskommen, doch nicht aus ihrem Gefängnis, der falschen Identität und der Männerkleidung, die ihr dennoch so viele Freiheiten gab. Cels Worte klangen wie eine verbotene Verlockung: Die Keltoi, obgleich sie Barbaren waren, gewährten ihren Frauen die gleichen Rechte wie den Männern! Lysandra hatte Blut geleckt und konnte von diesem Gedanken nicht mehr lassen. Fand sie in der Ferne, im Zinnland – sofern sie aus dem Totenreich zurückkehrte – die ersehnte Freiheit und Liebe? Durfte sie diese finden, ohne Schuld auf sich zu laden?
Der Keltoi hatte sie verdorben und unerreichbare Wünsche in ihr geweckt. Dieser unwiderstehliche und doch für sie verbotene Mann. Würde er sie wirklich anders behandeln als ein hellenischer Mann oder waren dies nur leere Worte und ihr eigenes Wunschdenken? Wieder nur Manipulation, wie auch Nerea sie einsetzte, um von ihr das zu bekommen, was sie wollte?
Andererseits konnte sie Cel helfen, seine Tage wieder in der Gestalt eines Mannes zu erblicken. Wie schwer musste es für ihn sein, in die Form dieser Kreatur gebannt zu sein? Oder erst für Sirona? Doch wie konnte sie ihnen helfen? Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihre besondere Fähigkeit einsetzen konnte. Es musste einen Grund haben, warum gerade sie diese Gabe besaß. Gewiss war das Zusammentreffen zwischen Cel und ihr schicksalhaft.
Jedoch bot ihr diese Reise die Möglichkeit, sich selbst zu beweisen, auch wenn niemand aus Delphoí davon erfahren sollte. Sie musste es tun, für sich selbst, und damit sie sich auch in Zukunft im Spiegel in die Augen sehen konnte, ohne einen Feigling darin zu erblicken.
Als Lysandra die Küche von Nereas Haus betrat, schlug ihr der Duft frischgebackenen Brotes
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