Der Kuss des Greifen
sich mit einem Ruck aus seinem Leib.
Glücklicherweise war die Lanze nicht tief eingedrungen, sondern von einer Rippe abgeprallt. Doch hatte sie sich in Fell und Haut verfangen und hinterließ eine blutende Wunde. Hätte er sich nicht ablenken lassen von der Tatsache, dass die Hellenen ein halbes Kind in den Kampf gegen ihn geschickt hatten, wäre es der Angreiferin nicht gelungen, ihn zu überraschen. Eine derartige Schwäche durfte er sich nicht mehr erlauben. Die Menschen waren jetzt seine Feinde, das durfte er nicht vergessen. Dies galt bedauerlicherweise auch für sein eigenes Volk, wie er aus schmerzvoller Erfahrung wusste, denn es hatte ihn verstoßen. Niemand duldete eine Kreatur wie ihn.
Seine Schwester Sirona rannte auf ihn zu. Cel schluckte. Sie war alles, was ihm noch geblieben war, seine einzige Verbindung zu seinem menschlichen Leben und doch würde er sie nicht lange haben. Die Lebenserwartung einer Katze war äußerst gering im Vergleich zu der eines Menschen, besonders, wenn sie so ein leuchtend weißes Fell hatte wie Sirona. Einige Menschen hatten es darauf abgesehen. Er musste schnellstens einen Weg finden, diesen Fluch von ihr und sich zu nehmen.
Sirona sah ihn besorgt an. »Du bist verletzt.«
»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.« Cels Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren verzerrt, was an seinem Schnabel lag. Auf Menschen wirkte sie, wie er wusste, furchteinflößend.
Sirona legte ihr weißes Katzenhaupt leicht schräg. »Ist sie tot?«
Cel schüttelte den Kopf. Er sah nirgendwo den Geist der Hellenin, offenbar befand er sich noch in ihrem Leib.
Vorsichtig drehte er die als Krieger verkleidete Frau mit einer Vorderklaue um. Trotz des Schmutzes in ihrem Gesicht war sie sehr hübsch. Ihr gewelltes dunkelbraunes Haar fiel ihr offen bis auf die Schultern. Die großen dunklen, von einem Bogen schwarzer Wimpern gesäumten Augen waren nun geschlossen. Ihre Haut war, wie die der meisten Hellenen, dunkler als seine. Die weiblichen Formen hatte sie geschickt unter dem dicken Stoff der Kleidung verborgen.
Ihre Verkleidung war gut. Ohne den feinen Geruchssinn des Greifen hätte er ihr Geschlecht nicht so einfach erraten. Für eine Hellenin war sie groß, dennoch wirkte sie zerbrechlich. Sie musste noch sehr jung sein.
Waren die Bewohner von Delphoí schon so verzweifelt, dass sie Frauen schickten, die zudem noch halbe Kinder waren?
»Ich glaube, sie lebt noch. Ich bin leider halb auf sie gefallen.«
Sirona fauchte. »Das geschieht ihr recht. Soll sie doch sterben. Sie hat dich verletzt und wollte dich töten. Ich hole blutstillende Kräuter für dich.« Sirona huschte in die Grotte, wo sie in einer der hinteren Kammern die Heilkräuter lagerte. Bald darauf kam sie mit einigen davon im Maul zurück. Sie beugte sich über seine Wunde, ließ Salbei und Wiesenknopf darauf fallen und drückte sie mit einer zuvor sauber geleckten Pfote fest.
Sirona betrachtete die Bewusstlose. »Sie dürfte nur ein paar Prellungen haben und eine Platzwunde am Kopf. Was machen wir mit ihr? Stürzen wir sie von einem der Abhänge herunter? Soll es wie ein Unfall aussehen oder willst du sie zuvor verbrennen, um die Menschen abzuschrecken?«
Celtillos schüttelte sein Adlerhaupt. »Nein, versuchen wir mit ihr zu reden. Sie ist eine von ihnen. Vielleicht kann sie uns helfen.«
Sirona sträubte ihr weißes Fell. »Uns helfen? Das glaubst du wohl selber nicht? Sie wollte dich töten! TÖTEN!«
»Aber wir brauchen die Hilfe eines Hellenen, da es sich um den Zauber von einem der ihren handelt. Du wirst sterben, das weißt du.«
Sie nickte. »In ein paar Jahren, doch sterben muss jeder. Wer weiß, ob mir nicht ohnehin nur ein kurzes Leben vorherbestimmt war? Außerdem gibt es keine Gewissheit, dass die Hellenen recht haben mit ihrer Vorstellung der Unterwelt und nicht unser Volk. Dann hätte ich nichts zu befürchten.«
»Doch wozu bräuchte man dann dieses Leben?«
»Ich weiß es nicht. Das hat sich zuvor auch keiner gefragt. Die Hauptsache war, unsere Leute stürzten sich mit Todesverachtung in die Schlachten.«
Celtillos und seine jüngere Schwester Sirona gehörten den Boiern an, einem der Stämme, die im Jahre 279 v. Chr. Makedonien erobert hatten und später über Thessalien nach Hellas gekommen und in Delphoí eingefallen waren. Dies war eine dunkle Zeit gewesen in Celtillos’ und Sironas Leben, denn dabei starben ihr Vater und ihr älterer Bruder. Ihre Menschlichkeit verloren sie nur wenige Tage
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