Der Kuss des Greifen
nicht nur die Pythia.«
»Wo gibt es einen in Delphoí?«
Lysandra grübelte. Es gab einige Seher in Delphoí, doch bisher hatte sie sich nicht für sie interessiert. »Aiolos von Heraklion. Meine Mutter sagt, er sei ein Spinner, doch offenbar ist er ein sehr erfolgreicher.« Tatsächlich gingen viele Leute zu ihm, seit er vor zwei Jahren nach Delphoí gekommen war.
»Wir suchen ihn jetzt auf.«
Lysandra schluckte. »Jetzt? Aber es ist schon dunkel. Da kann man doch nicht mehr jemanden besuchen, zumindest nicht ohne Einladung.«
»Du wirst schon sehen, dass ich das kann. Komm mit mir. Einem Einheimischen wird er eher vertrauen.«
»Wie willst du den Drachen, oder besser gesagt Greifen, denn von hier fortschaffen?«
»Du glaubst mir nicht?«
»Du bist einer von den Barbaren.«
Er sah sie aus zu Schlitzen verengten Augen an. »Ach, das hätte ich fast vergessen. Dann wirst du wohl auf den Lohn und die Ehre verzichten müssen.« Er wandte sich um.
»Warte, Celtillos!«
Er sah sie an.
»Lass es uns versuchen. Wenn der Greif hernach noch da sein sollte, dürfte mir das nicht entgehen«, sagte sie.
Lysandra glaubte ihm nicht, dass er den Greif beseitigen würde können. Andererseits sagte man den Keltoi sagenhafte Fähigkeiten im Kampfe nach. Diese hatten ihnen allerdings beim Angriff auf Delphoí auch nichts genutzt. Außerdem verdankte sie diesem Barbaren ihr Leben und stand deshalb in seiner Schuld.
»Komm jetzt«, sagte Cel. »Es gibt kaum etwas im Leben, was knapper ist als die Zeit und einem schneller durch die Finger rinnt.«
Lysandra ging mit ihm. Obwohl er ein Barbar war und ganz offensichtlich ein paar seltsame Ansichten vertrat, fand sie seine Gegenwart angenehm. Womöglich lag dies daran, dass sie sich ihm gegenüber nicht verstellen musste, wie sonst bei Männern. Niemand aus Delphoí durfte ihren Schwindel herausfinden. Cel hatte mit den Leuten hier keinerlei Kontakt und würde sie daher gewiss nicht verraten, selbst wenn er ihr Geheimnis erraten sollte.
Sie verließen die Höhle. Lysandra lief an seiner Seite den steinigen Pfad hinab, gefolgt von der weißen Katze. Es war bereits Nacht, doch der Mond schien hell, sodass sie genügend sah.
»Soll ich dich nicht lieber tragen, Sirona?«, fragte Cel.
Lysandra quollen vor Fassungslosigkeit beinahe die Augen aus dem Kopf, als sie sah, dass die Katze den Kopf schüttelte. Das hier war mehr als nur ein bisschen merkwürdig.
»Was willst du vom Seher?«, fragte sie.
»Informationen.«
»Aha, sehr aufschlussreich.«
»Ist etwas Persönliches.«
Sie stellte keine weiteren Fragen, schließlich hatte sie selbst genug zu verbergen. Lysandra war froh, dass sie niemandem auf den Straßen begegneten, der sie kannte, besonders nicht Nikodemos, Linos oder Gennadios, die den Lohn für die Drachentötung verwalteten. Wie sollte sie ihnen erklären, warum sie sich mit einem Keltoi herumtrieb, einem Feind ihres Volkes, anstatt das Ungeheuer zu jagen? Von ihrem seltsamen Handel konnte sie ihnen wohl kaum erzählen. Es würde nur darauf hinauslaufen, dass man annahm, sie wäre gar nicht bei der Höhle gewesen, sondern hätte alles nur vorgetäuscht. Doch noch konnte sie behaupten, das Untier nicht angetroffen zu haben. Ein paar Tage Spielraum ließen sich herausschlagen. Mehr allerdings auch nicht.
Sie erreichten eine düstere Gasse. An ihrem Rand wuchsen Zypressen, deren würzig-holziger Duft zu ihnen herüber wehte. Kühler Wind zog an Lysandras Gewand, als sie an Cels Seite zu Aiolos’ Haus lief. Es war, soweit sie erkennen konnte, unbeleuchtet. Vermutlich war er bereits zu Bett gegangen. Lysandra klopfte an die Tür. Ein Fenster im Obergeschoss wurde geöffnet.
Aiolos’ dunkler Haarschopf erschien »Wer ist da?«
»Lysandros, der Sohn der Nerea.«
»Und Euer Begleiter? Er ist nicht von hier?«
»Nein, er ist ein Fremder, der Euren Rat benötigt.« Wenn sie ihm verriet, dass er ein Keltoi war, riskierte sie, dass Aiolos sie nicht hereinließ oder gar sein Nachtgeschirr über sie beide ausleerte.
»Mein Rat ist aber nicht ganz billig.«
Lysandra grinste. Offenbar war sein Geschäftssinn stärker ausgeprägt als eventuelle Fremdenfeindlichkeit.
»Kommt herunter. Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Cel. Sie fragte sich, wie er hellenisch hatte lernen können, wenn er doch ihr Volk mied.
»Denkt Ihr, die habe ich?«, fragte Aiolos.
»Darum solltet Ihr kommen.« Eine unterschwellige Warnung lag in Cels Worten, die Aiolos offenbar vernommen hatte,
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