Der Kuss des Greifen
denn kurz, nachdem er das Fenster geschlossen hatte, erklangen Schritte im Haus. Die Tür wurde geöffnet und Aiolos trat heraus. Er war nicht nur vollständig angekleidet, sondern trug auch einen Umhang, als habe er ohnehin vorgehabt, das Haus zu verlassen. Seine Augen und sein Haar waren dunkel, der Bart wirkte frisch gestutzt. Aus dunklen, glitzernden Augen sah er sie an.
»Ich hoffe, Ihr habt Gold bei Euch, Keltoi.« Aiolos starrte auf Cels goldenen Halsreif. Die Gier war also größer als Angst oder Abscheu vor den Mördern ihres Volkes.
»Bereden wir alles im Haus«, sagte Cel.
Aiolos nickte. Cel fasste Lysandra am Unterarm und betrat mit ihr zusammen hinter Aiolos das Haus. Cel hielt Sirona die Tür auf, die nach ihnen hineinhuschte.
Aiolos bot ihnen Stühle an. Er selbst ließ sich an der anderen Seite des Tisches nieder. Cel setzte sich direkt neben die Tür, Lysandra neben ihn. Erst dann ließ er ihren Arm los. Die weiße Katze legte sich auf eine Bank unter dem Fenster hinter Aiolos.
»Also, wie kann ich Euch helfen? Wollt Ihr einen Blick in die Zukunft werfen oder mit den Toten sprechen?«, fragte Aiolos.
Cel schüttelte den Kopf. »Nein, es geht um einen Fluch, den wir brechen möchten.«
»Ein Fluch – nun, so etwas kommt häufiger vor, als man denkt.« Aiolos verschränkte die Finger. »Wisst Ihr, um welche Art von Fluch es sich handelt? Einen, der Unglück, Krankheiten oder gar den Tod bringt?«
»Nein, er verändert die Gestalt der Verfluchten. Einer von ihnen verwandelt sich tagsüber in ein Tier.«
Lysandra starrte Cel an. War er von Sinnen?
»In was für ein Tier? Einen Wolf? Ist er ein Lykantroph?« Aiolos erschauerte sichtlich.
»Nein, ein Greif.«
Lysandra starrte Cel völlig entgeistert an. Er wollte doch nicht etwa behaupten, er sei das Ungeheuer? Jetzt wusste sie auch, warum er sich neben die Tür gesetzt hatte: um zu verhindern, dass sie floh.
Unauffällig sah sie sich nach einem Fenster um, doch es befand sich hinter Aiolos. Dieser schien, im Gegensatz zu ihr, der haarsträubenden Geschichte Glauben zu schenken. War sie hier von lauter Irren umgeben?
»Ein Greif. Ihr meint doch nicht etwa das Ungeheuer vom Parnassós?«
»Könnt Ihr mir nun helfen oder nicht?«
»Wer ist der Urheber des Fluchs oder Zaubers?«
»Eine Frau namens Creusa. Sie ist groß, schön und hat langes schwarzes Haar. Bis vor einem Jahr wohnte sie in Delphoí.«
»Ich bin bereits seit zwei Jahren hier, doch diese Frau ist mir unbekannt. Dies scheint kein gewöhnlicher Fluch oder Zauber zu sein. Ich weiß, welche Arten von Zauber am meisten verwendet werden. Sie lebte hier, sagtet Ihr? Dann gibt es eine Möglichkeit: Wir müssen auf den hiesigen Friedhof.«
Lysandra sah zuerst zu Aiolos, dann zu Cel. »Auf den Friedhof?«
Die weiße Katze sträubte ihr Fell.
»Wozu soll das gut sein?«, fragte Cel, der ebenfalls nicht besonders angetan von dieser Idee zu sein schien.
Aiolos erhob sich. »Es ist wahrscheinlich, dass die Zauberin ihre Kraft aus einem magischen Gegenstand bezogen hat, einem Ring vielleicht, den sie in einem Grab hinterlegt hat. Die Toten, bevorzugt jung und gewaltsam gestorben, bringen die Zauber und Flüche über die Anrufungen in die Unterwelt, von wo aus sich diese manifestieren können. Ich weiß, auf welche Gräber ich zu achten habe. Vielleicht finden wir darin auch ein von der Zauberin hinterlegtes Bleitäfelchen, durch das wir den Wortlaut des Zaubers und womöglich ihren Namen herausfinden können. Am besten machen wir uns sofort auf.« Aiolos ging zu einer seiner Truhen, um ihr zwei Spaten und einen Beutel zu entnehmen.
Lysandra starrte ihn entsetzt an. »Er will Gräber öffnen. Wenn man uns dabei erwischt, wirft man uns in den Kerker wegen Grabschänderei.«
Cel warf ihr einen stechenden Blick zu. »Ich dachte, du wolltest dich beweisen? Jetzt hast du die Gelegenheit dazu. Was Sironas und meine Situation betrifft, werde ich mich durch solche Zweifel nicht daran hindern lassen, jede Möglichkeit zu ergreifen. Außerdem habe ich nicht vor, mich erwischen zu lassen. Wenn du also das Geld und die Ehre für die Beseitigung des Greifen haben willst, kommst du besser mit.«
Damit hatte er natürlich recht, dennoch hatte sie ein ungutes Gefühl bei der Sache. Lysandra folgte ihnen hinaus in die Nacht. Die weiße Katze blieb hinter ihr wie eine Wächterin.
Kapitel 3
Celtillos hasste es, sich auf Friedhöfe zu begeben. Wie viel es ihm kostete, dort zu sein,
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