Der Kuss des Greifen
Schweiß lief über seine Stirn. Er fluchte auf phönizisch, am Tonfall war es erkenntlich.
»Wenn wir ruhig und überlegt handeln, können wir siegen!«, rief Hiram, der nervös wirkte, sich aber offenbar nicht von der allgemeinen Unruhe anstecken lassen wollte.
»Was nun?«, fragte Belzzasar, der sich den Schweiß von der Stirn wischte.
»Wir drehen den Spieß um.« Hiram grinste ihn an, sodass seine weißen Zähne blitzten.
»Wie meinst du das?«
»Wir rammen sie! Unser Schiff ist dazu bestens in der Lage und sieht wesentlich stabiler aus als das ihre. Also dreht bei!«
Der Steuermann gehorchte sofort. Die Ruderer setzten all ihre Kräfte ein, um das Schiff schnell voranzubringen. Schon trieb die Tanith , ihren Pferdekopf voran, mit voller Kraft auf das andere Schiff zu.
»Du bist irrsinnig!«, rief Belzzasar. »Völlig irrsinnig. Das sage ich deinem Vater!«
»Das kannst du ja. Wenn wir das überleben, dann nur durch ein wagemutiges Manöver. Das Glück steht auf der Seite der Mutigen und Tüchtigen. Wenn wir fliehen, werden sie uns verfolgen. Da sie ein leichteres, schnelleres Schiff haben – und ihre Ruderer im Gegensatz zu den unsrigen ausgeruht sind −, würde dies nur dazu führen, dass wir noch erschöpfter sind, wenn sie uns einholen. Am besten stellen wir uns gleich der Gefahr.«
Lysandra hoffte inständig, er möge recht haben. Mittlerweile schwand ihr Mut nämlich in bedrohlichem Ausmaße.
»Zumindest wissen wir jetzt, warum Itthobaal niemals durch die Meerenge gefahren ist«, sagte Belzzasar.
»Hinterher ist man immer klüger.« Hiram hatte sein Schwert, einen hellenischen Xiphos, gezogen und wirkte kampfbereit.
»Sofern man überlebt. Hoffentlich nehmen wir dieses Wissen nicht mit in ein haifischverseuchtes Meeres-Grab.«
»Sieh nicht immer nur die schwärzeste Zukunft voraus, Belzzasar«, sagte Hiram und strich sich eine Locke aus der hohen Stirn.
»Das tu ich nicht. Ich sehe gar keine Zukunft für uns. Selbst wenn wir das hier überleben, bringt uns dein Vater um, wenn die kostbare Ladung beschädigt wird oder gar verloren geht.«
»Rede nicht, mach dich bereit für den Kampf!«, rief Hiram.
Auch Belzzasar zog sein Schwert.
»Wir rammen sie gleich!«, rief einer der phönizischen Seeleute. »Macht euch bereit zum Entern!«
Sogleich ging ein Ruck durchs Schiff. Die Phönizier liefen mit gezückten Waffen zur Reling. Diejenigen, die Bögen besaßen, feuerten Pfeile auf die unbekannten Angreifer ab. Andere sprangen an Bord des feindlichen Schiffes. Leider schossen auch die Gegner Pfeile auf sie ab. Wären die Phönizier nicht bereits auf dem feindlichen Schiff, hätte Lysandra dem Gegner gerne mit einem Brandpfeil geantwortet. So ging sie nur in Deckung, dennoch entging ihr nicht, dass einige der Angreifer das Schiff enterten. Zumindest versiegte jetzt der Pfeilhagel, da sie sonst ihre eigenen Leute treffen würden.
Ein Kampf entbrannte. Mehrere Männer griffen zugleich an. Belzzasar schwang sein Schwert mit einer für einen Händler erstaunlichen Geschicklichkeit. Hiram verschwand aus ihrem Sichtfeld. Lysandra sah einige der Phönizier verbissen gegen die Fremden kämpfen. Sie würden nicht so einfach aufgeben.
Lysandra wich dem Hieb eines Mannes aus. Der Angreifer war zwar deutlich größer als sie, doch keineswegs so wendig. Er besaß ein dem Xiphos ähnliches Schwert. Lysandra wich einem weiteren Schlag aus und griff gleichzeitig von der Seite her an. Sie war bereit, ihn zu töten – falls sie es musste, was sie dennoch sehr ungern tun würde. Erneut schlug er zu. Lysandra parierte den Schlag, doch spürte sie seine Wucht bis in die Schulter. Ihr Gegner war ihr an Kraft deutlich überlegen. Nur ein wagemutiges Manöver bot Aussicht auf Erfolg. Sie musste ihn so schnell wie möglich überwältigen.
Wieder holte der Mann aus und setzte zum Hieb an. Lysandra sprang zur Seite, doch nicht schnell genug. Die Klinge streifte ihren Arm. Die Wunde brannte, war jedoch nicht tief genug, um sie beim Kampf zu behindern. Dennoch musste sie ihn schnell beenden, bevor sie zu viel Blut verlor.
Lysandra nahm ihren Willen zusammen, um sich vom Schmerz nicht überwältigen zu lassen und griff an. Offenbar rechnete der Mann nicht mit so einer schnellen, waghalsigen Gegenattacke. Bevor er erneut ausholen konnte, legte sie ihm die Schwertklinge an den Hals.
Der Kampf um sie herum war beendet. Stille breitete sich aus.
»Wer schickt Euch und was wollt Ihr?«, fragte sie.
»Wir sind nur einfache
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