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Der Kuss des Greifen

Der Kuss des Greifen

Titel: Der Kuss des Greifen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Morgan
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Unvermeidliche nicht mehr zu wehren. Auch der Schmerz glich nicht mehr jenem, dem er damals bei den ersten Umwandlungen empfunden hatte.
    Diesmal schmerzte ihn vor allem etwas anderes: Niemals mehr würde er als Mensch das Licht des Tages erblicken. Niemals würde er eine Familie oder eine Zukunft haben. Er dachte an das Lachen, das er damals mit Sirona geteilt hatte. Er erinnerte sich, wie sie als Kinder inmitten von Schafen über Wiesen gejagt waren und wie ihr langes Haar mit den gelben Blumen darin geschimmert hatte im Sonnenlicht.
    Auch gedachte er seiner Mutter, die viel zu früh gestorben war. Ihre Gebeine lagen in der Erde seiner Heimat, wohin es keine Wiederkehr gab. Doch wie viel war ihr durch den frühen Tod erspart geblieben? Sie musste nicht das sehen, zu dem Sirona und er geworden waren. Selbst die anderen seines Volkes hatten sie deshalb verlassen. Nur Sirona war bei ihm geblieben, was sie auch getan hätte, wenn der Fluch sie selbst nicht ereilt hätte. Er bedauerte es zutiefst, sie in diese nahezu aussichtslosen Schwierigkeiten gebracht zu haben.
    Der körperliche Schmerz verebbte, doch seine Seelenpein hielt unvermindert an. In seiner Greifengestalt erhob er seine Schwingen und entfloh innerhalb weniger Augenblicke, in denen er hoffte, dass gerade niemand in die Höhe sah, in den Himmel. Weit oben verwechselte man ihn womöglich mit einem großen Vogel. Zumindest hoffte er das. Aufgrund des Gewichts seines Löwenleibes konnte er nicht den ganzen Tag fliegen. Er würde an Land gehen müssen und die Tanith später vor Anbruch des Tages einholen, um dort in seiner menschlichen Gestalt neben Lysandra zu ruhen in den finsteren Stunden der Nacht, der einzigen Zeit, während der er er selbst sein konnte.
    Auch wusste er noch nicht, wie er die Strecke zu den Zinninseln überwinden würde können, doch hoffte er, bis dahin eine Lösung gefunden zu haben. Es gab nicht viele Versteckmöglichkeiten auf dem Schiff.
     
    Die Meerenge, auch Straße von Zankle oder das Tor Siziliens genannt, erreichten sie wenige Tage später etwa zwei Stunden nach Sonnenaufgang. Verzittert von den Wellen spiegelte sich der rötlich erstrahlte Himmel im Meer. Zu beiden Seiten zeigten sich dunstverhangene Wiesen, zerklüftete Berge und die gezackten Silhouetten von Städten in der Ferne. Milane, Weihen und Bussarde zogen ihre weiten Bahnen hoch am hellblauen, kaum bewölkten Himmel über der Tanith .
    »Sizilien, wir kommen!«, sagte Hiram, der sichtlich guter Laune war. Der Fahrtwind blies ihm die schulterlangen dunkelbraunen Locken aus dem Gesicht. Trotz des Bartes wirkte er sehr jung und nicht zum ersten Mal fragte Lysandra sich, ob er nicht sogar jünger war als sie selbst mit ihren zweiundzwanzig Jahren.
    Jung für einen Mann, doch alt für eine Frau, denn sämtliche Helleninnen ihres Alters waren schon seit vielen Jahren vermählt. In einer Zeit, in der man um das vierzehnte Lebensjahr herum die Ehe einging, war sie bereits eine alte Jungfer. Meist verdrängte Lysandra diese Tatsache oder tat sie als unwichtig ab und redete sich ein, keinen Mann und keine Kinder zu brauchen. Doch würde sie es im Alter bedauern, niemals die Liebe kennengelernt zu haben.
     Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zu Cel, der in der Gestalt eines Greifen irgendwo an einem unbekannten Ort den Tag zubrachte. Ob er sich manchmal so einsam fühlte wie sie sich jetzt?
    »Ein fremdes Schiff im Nordwesten!«, schrie der Mann im Ausguck.
    Die Besatzung der Tanith wirkte unruhig, als würden sie mit einem Angriff rechnen. Gewiss musste man auf Reisen, ob auf See oder zu Lande, stets sehr vorsichtig sein, doch noch war Lysandra zuversichtlich. Womöglich stammte das Schiff aus Rhegion, einer der Küstenstädte des von den Hellenen besiedelten Kalabriens, und transportierte Waren wie das ihre. Es ähnelte von der Bauweise mit den beiden identischen hochgezogenen Steven dem der Tanith , wenngleich es auch etwas zierlicher wirkte.
    Doch als es noch näherkam, erschien es keineswegs vertrauenserweckend. Zerlumpte Gestalten lungerten an Bord. An jeder möglichen und unmöglichen Körperstelle schienen sie Waffen zu tragen. Viele von ihnen hatten sie bereits gezückt.
    Auch Lysandra griff zu ihren Waffen und ließ ihren Blick schweifen. Falls der Feind Bogenschützen einsetzen würde, bräuchte sie eine Deckung.
    »Bei Eshmun, sie kommen zu rasch näher! Sie sind schneller als wir!« Belzzasars tiefe Stimme überschlug sich fast. Er raufte sich sein Haar.

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