Der Kuss des Greifen
sah sie eindringlich an. »Und du? Hast du eine Braut irgendwo?«
Lysandra schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt niemanden.«
»Dann haben wir etwas gemeinsam.« Er lächelte, sodass seine Zähne aufblitzten in seinem dunklen Gesicht. Hiram war ein attraktiver, gepflegter Mann mit leicht kantigen Gesichtszügen. Sein Bart war stets sorgfältig gestutzt.
Sie beobachteten, wie die Waren ausgeladen wurden. Sie bestand vor allem aus Kunstgegenständen und Tonwaren aus Delphoí, welche an die Bevölkerung feilgeboten werden sollen, wie sie den Gesprächen der Seeleute entnommen hatte.
»Wir können jetzt gehen«, sagte Hiram. »Ich werde dich zu den Orangenhainen bringen, wie ich es dir versprochen habe.«
In Hirams Gesellschaft fühlte Lysandra sich wohl. Gemeinsam schlenderten sie durch die Straßen und über die Märkte. Niemand schien ihr feindlich gesinnt zu sein, obwohl sie hellenisch aussah. Die Phönizier waren zu sehr auf den Handel ausgerichtet, als allzu viel Wert auf die Herkunft ihrer potenziellen Kunden zu achten. Vor den Ständen unterhielten sich die Menschen, feilschten, tauschten den neuesten Tratsch aus oder wollten rasch etwas erwerben.
Einige der getünchten Gebäude besaßen Vorgärten mit Ginster, Oleander und anderen Blumen in Beeten oder tönernen Schalen.
»Was habt ihr sonst noch geladen?«, fragte Lysandra Hiram, der rasch durch die Gassen der Stadt ging.
»Indigo aus Tyros. Heimlich erworben. Alles ist dort im Niedergang.« Traurigkeit lag in Hirams Blick.
»Das tut mir leid.« Lysandra hatte von der einst prächtigen phönizischen Stadt gehört, die von Makedonien, zu dem auch Delphoí jetzt gehörte, durch Aléxandros ho Mégas unterworfen worden war.
Hiram hob die Achseln. »Mein Vater wird zetern, doch wird er froh sein, diesen als Tauschware für das Zinn zu haben.«
»Zinn? Ihr meint von den Zinninseln? Fahrt ihr dorthin? Würde dein Vater uns mitnehmen?«
»Mein Vater fährt nicht mehr selbst. Ob mein Bruder Euch mitnehmen wird, weiß ich nicht. Vielleicht traut mein Vater mir diese Fahrt doch noch zu. Man gibt die Hoffnung ja nicht auf.«
»Hast du jemals so eine lange Fahrt unternommen?«, fragte Lysandra.
Er grinste. »Für alles gibt es ein erstes Mal.«
Vor ihnen erstreckten sich Haine mit Orangen-, Zitronen-, Oliven- und Feigenbäumen. Lysandra starrte den üppigen Bewuchs an, wie sie ihn aus ihrer Heimat nicht kannte. Dies war eine Offenbarung für sie, da sie von all dem Grün fast geblendet wurde. Hinter den Bäumen sah sie die Blumen, die Ziz seinen Namen gegeben hatten. Auch glaubte sie, in der Ferne Weizenfelder und Weinberge zu entdecken. Wenn man so eine Pracht sah, wollte man nie wieder ins karge Hellas zurückkehren.
»Wenn du von den Früchten naschen willst, lass dich nicht erwischen!« Hiram grinste. »Wenn dich jemand fragt, was du hier treibst, sag ihm, du willst im Oreto baden.« Er deutete auf den Fluss, der wie ein glitzerndes Band die Haine durchzog und sie tatsächlich lockte mit seinem kühlen Nass. »Nebenbei bemerkt solltest du das wirklich in Erwägung ziehen. Ich würde ja gerne mit dir zusammen baden«, Hiram sah ihr tief in die Augen, »aber leider muss ich mich mit einem Händler treffen.« Bedauern lag auf seinen Zügen. »Ich hole dich in ein paar Stunden ab. Es wird bald dunkel, aber zumindest ist es dann nicht mehr so heiß.« Er winkte ihr zu und verschwand.
Lysandra eilte zum Fluss. Da die Sonne inzwischen unterging, war das Risiko gering, entdeckt zu werden. Als sie niemanden sah, entkleidete sie sich und watete in den Fluss. Das Wasser war kühl im Gegensatz zur Lufttemperatur, doch herrlich erfrischend, als es über ihre Haut perlte.
Cel hatte die Tanith aus der Höhe beobachtet. Den Seeräuber hatte er an anderer Stelle ins Meer geworfen und war danach eine Weile über den Wolken geschwebt, bevor er sich einen Ruheplatz gesucht hatte in einer unbewohnten Gegend Siziliens.
Am Abend war er eine Weile vor Sonnenuntergang erwacht und erneut aufgestiegen gen Himmel, um seine Kreise zu ziehen, damit er sich einen Überblick verschaffen konnte. Die Tanith hatte zwischenzeitlich am Hafen angelegt. Lysandra war mit Hiram, der ein übermäßiges Interesse an ihr zeigte, von Bord gegangen. Wusste er etwa, dass sie eine Frau war? Dies konnte sie in Gefahr bringen. Als Frau reiste man besser nicht allein. Ihren Bruder Damasos konnte man kaum als einen zuverlässigen Begleiter bezeichnen, davon abgesehen, dass er seine mangelnde
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