Der Kuss des Greifen
weitergetrieben, doch irgendwann erschien mir das alles sinnlos.« Er sah sie an. Die Mondsichel spiegelte sich in seinen Pupillen. »Du wirst mich doch nicht im Schlaf ermorden, weil unsere Völker Feinde sind?«
Lysandra schüttelte den Kopf. »Ich habe nie dazugehört, weder zu den Einheimischen noch zu … Ist nicht wichtig.« Weder zu den Männern noch zu den Frauen. Lysandra gehörte nirgendwo dazu. Sie war sogar sich selbst fremd, da sie niemals hatte erforschen können, wer sie wirklich war.
Cel nickte. »Mir ging es ebenso. Später. Zuerst gehörte ich überall dazu, doch dann verstießen sie meine Schwester und mich, weil wir anders waren. Nicht mehr menschlich, da wir in die Leiber von Tieren gebannt wurden, und doch menschlicher als zuvor waren wir aufgrund der Erfahrung. Manchmal ist es besser, nicht zu wissen, was man verloren hat, als fortan mit dieser Leere leben zu müssen.« Er starrte hinauf zum Himmel, schien jedoch die Sterne nicht mehr zu sehen.
Lysandra schwieg. Auch sie blickte empor zum Firmament und gedachte der Zukunft, die sie erwartete. Was mochte geschehen? Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, ihr Leben selbst zu führen, anstatt sich den Vorstellungen anderer zu fügen.
Lysandra starrte noch immer hoch zu den Sternen, als Cel eingeschlafen war. Sein gleichmäßiger Atem ging fast unter im Raunen des Windes und dem Tosen der Wellen. Sie betrachtete sein Gesicht, das endlich friedvoll wirkte, jetzt, da er schlief. Sein langes Haar war um ihn gefächert und glänzte silbrig. Sie konnte nicht widerstehen, es zu berühren. Nie zuvor hatte sie etwas so Weiches berührt. Ihre eigenen Haare kamen ihr im Vergleich dazu starr und dick vor.
Auch seine Haut war heller als die ihre. Sachte berührte sie mit den Fingerspitzen seine Wange. Erste Bartstoppeln waren darauf, doch seine Unterlippe war unbeschreiblich zart, ebenso wie die golden schimmernde Haut seiner Brust und seines Bauches mit den feinen Härchen, die sich um seinen Nabel herum nach unten zogen, bis dorthin, wo die Decke seine Nacktheit verbarg. Seine Haut war warm und ein unbeschreiblicher Duft stieg von ihr auf. Wie es wohl war, mit der Zunge seinen Geschmack zu erkunden?
Lysandra schrak zurück, als hätte sie sich selbst bei etwas Verbotenem erwischt. Sie sollte gegen die wachsende Attraktion, die sie für Cel empfand, ankämpfen, anstatt sie zu fördern. Selbst wenn sie ihm trauen konnte, obwohl er ein Keltoi war, ein Feind ihres Volkes, so musste sie ihre wahre Identität verbergen. Dies konnte sie nur, indem sie Abstand hielt.
Cel erwachte noch vor Sonnenaufgang, doch spürte er bereits jenes Ziehen und Prickeln in seinem Leib – die ersten Anzeichen der Verwandlung. Er betrachtete Lysandras Gesicht und ihr vom Schlaf zerzaustes Haar. Sie sah so jung aus, so schutzbedürftig und war doch eine Kriegerin. Er bedauerte es, sie verlassen zu müssen und wusste auch noch nicht, wo er den Tag verbringen würde, da Hirams Schiff, die Tanith , übers Meer in Richtung Sizilien fuhr, wie er noch am Hafen von Kirra in Erfahrung gebracht hatte.
Sizilien war nach dem Tod des Königs Agathokles der Anarchie verfallen. Niemand konnte ihm Genaueres über die aktuellen Zustände dort sagen, doch war er froh, dass die Tanith nur den phönizischen Ort Ziz und womöglich Mozia auf der Insel westlich Siziliens ansteuerte. Diese galten als sicher, sodass er sich während des Tages beruhigt zurückziehen würde können.
Cel bedauerte es sehr, die Reise nicht an Lysandras Seite vornehmen zu können. Er strich ihr eine der dunkelbraunen Locken aus dem Gesicht. Sie war anders als die anderen Helleninnen, aber auch als die Frauen seines Volkes. Er wusste noch nicht genau, woran es lag, doch irgendetwas an ihr faszinierte ihn.
Einem Impuls folgend beugte er sich hinab. Tief atmete er ihren verführerischen Duft ein und küsste sie auf die Stirn. Zwar benahm sie sich meistens – wohl, damit niemand hinter ihr Geheimnis kam – wie ein Mann, doch war sie unverkennbar eine Frau. Eine sehr verlockende Frau. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, warum sie ihre Feminität verbarg oder ob sie gar auf der Flucht war.
Cels Zeit in seiner menschlichen Gestalt war wieder einmal vorüber, die Schmerzen wurden zu intensiv. Endlich gab er dem Drängen seines Leibes nach und eilte in die Schatten hinter Hirams Kajüte, wo er sich hinkauerte.
Der Übergang in die andere Gestalt dauerte immer kürzer, je mehr er lernte, sich gegen das
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