Der Kuss des Greifen
verließen sie das Reich des Morpheus und mit ihm die trügerische Sicherheit der Träume.
»Ich glaube, ein Sturm zieht auf«, sagte Cel, als der Wind zunahm. Tief liegende bleigraue Wolken verdunkelten den ohnehin nie besonders hellen Himmel. Lysandras Haar flog wild um ihr Gesicht. Auch sie blickte besorgt zum Himmel empor.
Aiolos sah sie überrascht an. »Ein Sturm im Schattenreich?«
Cel erstarrte. Er deutete gen Himmel. »Die Harpyien! Die werden wir wohl nie los!«
Getarnt durch wogende Wolken waren die Unheilsvögel ihnen bereits sehr nahe. Ihre Schwingen zerteilten die Lüfte. Eine von ihnen rauschte an Lysandra vorbei, sodass sie fast der Gegenwind umgeworfen hätte. Doch schon war die Harpyie wieder hoch oben in den Lüften mit der zappelnden Sirona in ihren Klauen!
Cel verspürte Panik. Gegen diese Unheilsvögel würde die Katze nicht ankommen. Sie wirkte so klein in ihren Klauen. Er warf seinen Speer, verfehlte die Harpyie jedoch knapp, da sie sich rasch in die Höhe zurückzog. Jetzt wollte er sie nicht mehr treffen, da sie zu weit oben flog. Ein Sturz aus dieser Höhe wäre für Sirona zu gefährlich.
Auch ihre dunklen Schwestern flogen hinauf, ihr Hohngeschrei hallte vom Firmament wider. »Wenn Ihr sie wiederhaben wollt, so müsst Ihr kommen, Celtillos. Ihr müsst nur den falschen Namen der Zauberin nennen.« Unter kreischendem Gelächter rauschten sie davon und mit ihnen die Sturmwolken und die Finsternis.
»Sie haben meine Schwester!« Cel durchzuckte der Schmerz des Verlustes mit plötzlicher Heftigkeit. »Sirona! Diese Kreaturen haben sie mir genommen! Sie werden ihr doch hoffentlich nichts antun.« Er hatte sie in Gefahr gebracht, nicht nur Sirona, sondern sie alle, auch Lysandra. Immer hatte er seine jüngere Schwester, seine einzige lebende Verwandte, vor allem beschützen wollen, doch er hatte versagt. Wer wusste, was diese widerwärtigen Kreaturen mit ihr vorhatten?
»Vom wem sprachen sie?«, fragte Lysandra.
»Von Creusa. Sie war nach unserer Verwandlung noch einmal bei mir gewesen und hat mir angeboten, den Zauber von uns zu nehmen, sollte ich mich in ihre Gewalt begeben, doch dann kam Sirona und warf sie hinaus. Sirona sagte, es müsse noch eine andere Möglichkeit geben, als sich dieser Frau zu Füßen zu werfen. Ich hätte es dennoch tun sollen, denn jetzt hat sie Sirona und kann mich erpressen. Womöglich wird sie sie foltern und töten.«
»Warum will diese Frau dich unbedingt?«
»Ich weiß es nicht. Erst versuchte sie mich zu verführen und wob einen Liebeszauber, doch als dies alles misslang, verwandelte sie uns in ein Tier und ein Mischwesen.«
»Warum misslang der Liebeszauber, wenn doch der weitaus aufwendigere Verwandlungszauber gegriffen hat?«, fragte Aiolos.
Cel hob die Achseln. »Das weiß ich nicht. Ich glaube, Sirona hat etwas getan, wodurch der erste Zauber unschädlich wurde. Was genau, wollte sie mir nicht sagen. Ich hoffe nur, es war nichts Gefährliches, wofür sie jetzt bezahlen muss.« Ein schweres Gefühl breitete sich in seiner Brust aus. Seine Augen brannten und sein Kiefer schmerzte, so fest spannte er ihn an.
Lysandra legte ihm die Hand auf den Arm. »Wir werden einen Weg finden, sie zu befreien. Es muss einfach einen geben.«
»So etwas sagte Sirona auch immer. Sie ist eine wahre Kriegerin, die sich niemals unterkriegen lässt, selbst im Angesicht des Todes nicht.«
»Diese Frau, Creusa, oder wie auch immer sie sich nennen mag, will gewiss etwas von dir, das ihr sehr wichtig ist. Offenbar befürchtet sie, du könntest hier in der Unterwelt wirklich den Zauber brechen, sonst hätte sie sich nicht so viel Mühe gemacht, unsere Reise zu verhindern.«
»Warum? Ich frage mich, warum sie ausgerechnet mich will? Es gibt so viele Männer, die sie hätte haben können, die vor allem williger gewesen wären. Sie ist eine schöne Frau, die gewiss auch einen anderen gefunden hätte. Warum wollte sie ausgerechnet mich?«
»Hast du besondere Fähigkeiten?«, fragte Aiolos.
Cel starrte ihn an. Wie kam Aiolos darauf. Hatte er besondere Fähigkeiten, außer dass er ein hervorragender Krieger war und als zuverlässig galt? Er zögerte. »Warum fragst du das?«
»Nun, nach deiner bisherigen nicht alltäglichen Geschichte zu urteilen, könnte die Ursache ebenso ungewöhnlich sein.«
Cel überwand sich. Es sah ohnehin nicht gerade rosig für ihn aus. Was hatte er noch zu verlieren? »Ich kann die Toten sehen, doch würde ich dies nicht als besondere
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