Der Kuss des Greifen
zurückzog.
»Sehen wir, dass wir noch ein wenig Schlaf bekommen. Morgen suchen wir das Haus des Hades auf«, sagte Aiolos.
»Ich ziehe mich mit Lysandros in dieses Gemach zurück«, sagte Cel.
Aiolos lachte. »Also heißt er oder sie doch Lysandra, ich verstehe. Ich nehme die Katze mit zu mir, wenn sie nichts dagegen hat. Ich möchte nicht, dass so ein kleines, wehrloses Tier allein ist. Selbst hier nicht. Morpheus scheint recht freundlich zu sein, doch sollten wir dennoch Vorsicht walten lassen.«
»Ich bin vielleicht klein, aber nicht wehrlos«, sagte Sirona.
»Ich wollte dich nicht beleidigen, Kleine«, sagte Aiolos, »und ich bin gespannt, wie du als Mensch aussehen wirst. Ich wünsche es mir für dich, dass dies bald der Fall sein wird.«
»Wenn du deine Hände bei dir behältst, schlafe ich mit dir in einem Raum. Nur weil ich zufällig wie eine Katze aussehe, gibt das niemandem das Recht, mich einfach zu betatschen.«
»Gut, gut, kleine Sirona. Ich verstehe dich ja.« Aiolos und Sirona verschwanden im angrenzenden Raum. Auch Lysandra und Cel zogen sich zurück.
Der Raum war düster, wirkte aber dennoch gemütlich mit dem schwarzen Bett in einer Ecke, das man im rechten Winkel zur Zimmerecke versetzt hatte. Die dadurch entstandenen Dreiecke waren man mit schwarz schimmernden Granitplatten abgedeckt. Auf einem davon stand eine Öllampe, auf der anderen eine schwarze Vase mit einem Strauß rosaviolettem Schlafmohn, der seinen betörenden Duft verbreitete.
»Ich habe mich nach diesem Augenblick gesehnt«, sagte Cel, der oberhalb von Lysandras Brust zwei Finger in ihr Gewand schob und hineinsah.
»Es könnte unser letztes Mal sein.« Lysandra verspürte Trauer.
»Wir können das durchstehen und wir können auch in die Menschenwelt zurückkehren. Es tut mir leid, dich in all das hineingezogen zu haben. Aber es ging nicht anders, denn uns läuft die Zeit davon.«
»Ich wäre ein Feigling, hätte ich euch nicht geholfen.«
»Zwischen Mut und Leichtsinn befindet sich manchmal nur ein schmaler Grat.«
»Mein Leben ist ohnehin verwirkt. Warum sollte ich nicht zuvor das anderer retten?«
»Niemandes Leben ist verwirkt!«, sagte Cel. »Es gibt immer eine Lösung.«
»Selbst ohne den Eid bin ich an Nerea gebunden. Viele andere hätten die Tochter ihrer Schwester einfach weggegeben, doch Nerea hat mich aufgezogen. Viele setzen ihre eigenen Töchter aus, in der Hoffnung, dass sie von ehrbaren Bürgern gefunden werden, doch allzu oft werden diese in die Sklaverei verkauft.«
»Die Hellenen setzen ihre Töchter aus?«, fragte Cel.
Lysandra nickte. »Ja, denn sie sind für sie nur eine Bürde, die ihnen viel Mitgift kostet. Ihr einziger Nutzen liegt darin, sie geschickt zu verheiraten, um den Einfluss und die Beziehungen der Familie zu vermehren. Die meisten wollen nur eine oder bestenfalls zwei Töchter und lieber Söhne.«
»Ich verstehe die Hellenen nicht, dass sie ihre Töchter geringer schätzen als ihre Söhne.«
»Die Boier tun dies nicht?«
Cel schüttelte den Kopf. »Der Gedanke allein ist für uns befremdlich.«
»Ich wünschte nur, unser Volk würde so denken, wie jene, die wir als Barbaren bezeichnen. Wir können einiges von euch lernen.«
»Einiges, doch nicht alles. Man hätte uns beim Angriff auf Delphoí niemals besiegt, wenn die einzelnen Stämme sich nicht zuvor bereits gegenseitig umgebracht hätten. Davon abgesehen kann ich diesen Angriff heutzutage trotz all der damaligen Verzweiflung nicht mehr gutheißen.«
»Worüber war man sich uneinig?«
»Ach, das Übliche: die Beuteaufteilung und wer das Heer führt. Nicht jeder war mit Brennos und Akichorios einverstanden. Nichts gegen eine Schlägerei, doch man muss sich nicht immer gleich gegenseitig umbringen. Es sollte schon etwas sein, wofür sich das Sterben lohnt. Doch will ich dich damit nicht belasten.« Cel trat näher zu Lysandra heran.
Das Bett mit seinen verzierten Füßen und der lehnenartigen Erhöhung am Kopfende war aus dunklem, beinahe schwarzen Holz. Die Matratze schien mit Heu oder anderen Pflanzenfasern gefüllt zu sein. Krapprote Leinentücher und dunkle Felle dienten als Zudecken. Auch das runde Kopfpolster war mit einem roten Leinentuch bespannt.
»Sieht doch ganz gemütlich aus«, sagte Cel.
Lysandra, die sich mit einem Mal nicht mehr so sicher war, ob sie nicht doch von Morpheus’ berauschendem Getränk gekostet hatte, da ihr Geist so umnebelt war, sank in die nach Lilien duftenden Kissen. Plötzlich lag Cel
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