Der Kuss des Greifen
Fähigkeit betrachten, sondern eher als einen Fluch.«
»Du kannst die Toten sehen?«, fragten Aiolos und Lysandra wie aus einem Mund. Sie starrten ihn ebenso entsetzt wie erstaunt an.
»Das sagte ich doch soeben.«
Lysandra sah ihn jetzt nachdenklich an. »Das Totenreich und die Toten sehen. Da besteht ein Zusammenhang.«
»Diese Zauberin verfügt über eine große Macht, sonst hätte sie dich nicht verwandeln können«, sagte Aiolos. »Vermutlich weiß sie, dass wir hier sind und was wir hier treiben.«
»Hast du einen Vorschlag?«, fragte Cel.
»Beschwöre sie.«
»Was?« Cel starrte ihn völlig entgeistert an.
»Beschwöre sie, wie die Harpyie es gesagt hat, und frag sie, was der ganze Humbug soll.«
Sironas Leben war in Gefahr. Kam er gegen eine solch machtvolle Zauberin an? Er musste es wagen. Notfalls ging er mit ihr, wenn sie dafür Sirona freiließe. Sirona, ohne die er nicht weiterleben konnte.
»Ich sollte mit der Anrufung lieber warten, bis ich mich wieder in den Greif verwandelt habe«, sagte Cel.
Aiolos nickte. »Das wird dir nicht viel nützen. Im Gegenteil. Wenn sie es war, die dich verzaubert hat, dann kann sie dich sicher zurückverwandeln. Und für die Dauer der Rückverwandlung bist du erbärmlich hilflos.«
»Das ist ein Argument.« Cel nickte. »Da ist was dran. Hoffen wir, dass es funktioniert.« Er holte tief Luft. »Creusa, ich rufe dich bei deinem falschen Namen. Ich beschwöre dich. Zeige dich mir. Komm zu mir in deiner wahren Gestalt.«
Nichts geschah.
Cel sah Aiolos an. »Bist du dir sicher, dass das funktioniert?«
»Sicher ist nur der Tod.«
Cel folgte Aiolos’ Blick.
Die Schatten verdichteten sich. Dunkelheit erfüllte den Raum vor ihnen und wirbelte einmal spiralförmig um sich selbst. Eine schwarze Gestalt schälte sich aus der Finsternis. Creusa erschien. Und ein Tor, denn hinter ihr, durch den sie umgebenden aus Schatten geformten Ring, erkannte Cel dunkle Marmorfliesen.
»Es ist zu begrüßen, dass du dich doch noch anders entschieden hast, Celtillos«, sagte die Zauberin.
Er starrte die dunkle Erscheinung vor sich an. Sie war ebenso schön wie furchteinflößend. Machtvoll und gefährlich. Spätestens jetzt verbannte er alle Zweifel, dass sie nicht menschlich war.
»Lass Sirona gehen und nimm mich an ihrer statt«, sagte Cel.
»So sehr liebst du sie?«
»Sie ist meine Schwester.«
»Das ist mir gleichgültig.«
»Lass sie frei und nimm mich dafür.«
»Oh, wie edel von dir«, sagte sie in spöttischem Tonfall. Ein Lächeln trat auf ihr blasses, von langem schwarzen Haar eingerahmtes Gesicht. Auch ihr Gewand war schwarz wie ihre gefiederten Schwingen. Diese hatte sie zuvor nicht gehabt oder geschickt vor ihm verborgen.
Hinter ihr kam die Harpyie, die Sirona entführt hatte, mit dieser in den Klauen herbeigeflogen. »Ich hab das Katzenvieh!«
Sirona wand sich vergeblich in ihren Fängen und riss sich dabei ein wenig leicht blutiges Fell aus. In Cel stieg unbändige Wut auf bei diesem Anblick.
»Lass sie los, du Nebelkrähe!«, rief Cel.
Die Harpyie lachte meckernd. »Das hättest du wohl gerne, Menschlein?«
Menschlein war gut. Cel spürte bereits den ziehenden Schmerz, den Vorboten der Verwandlung, der rasch stärker wurde. Ausgerechnet jetzt! Es schien wirklich außerhalb seiner Kontrolle geraten zu sein. Der künstliche Tag-Nacht-Rhythmus der Totenwelt hatte alles durcheinandergebracht.
Er spähte zum Feind hinüber und hasste es, sich so hilflos zu fühlen in den Minuten der Verwandlung. Creusas dunkle Augen ruhten erbarmungslos auf ihm. Sie würde jede Schwäche ausnutzen, das wusste er. Womöglich hatte sie die Verwandlung eingeleitet. Er traute ihr jede Boshaftigkeit zu. Seine größten Schwächen waren Sirona und Lysandra. Sirona hatte sie bereits. Von seinen Gefühlen für Lysandra sollte sie nichts erfahren, wenn sie es nicht bereits wusste.
»Du hast mich hintergangen«, sagte die Frau, die er als Creusa kannte. »Dafür wirst du bezahlen. Komm mit mir.«
»Lass zuerst Sirona frei.«
Creusa trat zu ihm. Ihre Hand ruhte auf dem Knauf ihres Schwertes. Der Schmerz der Umwandlung ließ Cel taumeln. Keuchend ging er in die Knie.
»Gefällt dir der Schmerz?«, fragte Creusa maliziös lächelnd. »Ergib dich mir und du musst ihn nie wieder ertragen.«
Cel jedoch wehrte sich nicht gegen den Schmerz, sondern nahm ihn an und ging voll in ihn hinein. Die Erfahrung lehrte ihn, dass auf diese Weise die Umwandlung deutlich schneller vonstattenging.
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