Der Kuss des Jägers
können.
Im gleichen Augenblick wurde er sichtbar. Er stand am Fenster. Das
warme Licht fiel auf seine einst so vertrauten Züge. Es kam ihr vor, als sei
der frühere, nicht ganz makellose Rafe in den letzten Tagen immer weiter hinter
dem reinen, von allem Irdischen losgelösten Engel verblasst, der mehr Ehrfurcht
und Bewunderung für seine Schönheit in ihr hervorrief als Liebe.
»Nein, ich … alle Engel würden es
wissen, wenn es so wäre.«
Sie hatte gehofft, dass seine Worte sie beruhigen würden, doch die
Ungewissheit war beinahe schlimmer. Das Bett schien plötzlich nicht mehr
anheimelndes Versteck, sondern einlullende Falle zu sein. Außerdem kam sie sich
seltsam dabei vor, dort zu liegen und zu Raphael aufzusehen, der fremder denn
je wirkte. »Wo ist er? Worauf wartet er?«, wollte sie wissen, während sie
aufstand, um sich – selbst im Pyjama – würdevoller zu fühlen.
»Ich weiß es nicht. Ich verfüge nicht über die Macht, ihn nach
Belieben aufzuspüren.« Er sah besorgt aus, bemühte sich aber, ihr ein Lächeln
zu schenken. »Womöglich hat er sich sogar dem Wissen der Kerubim entzogen, doch
es steht mir nicht zu, sie zu fragen.«
In der Küche klapperte Madame Guimard mit Geschirr. Sicher würde sie
sich bald wundern, wo Sophie blieb. Immerhin wollte sie heute abreisen. Und Lara kommt! , fiel Sophie ein, doch die Freude darüber
wirkte fehl am Platz. Alles wirkte fehl am Platz.
Kafziel konnte jeden Augenblick den Weltuntergang einläuten, ein Mädchen war
gestorben, Jean war womöglich verletzt oder ebenfalls tot … Wie sollte sie ihn
finden, ihm helfen? Mittlerweile stand wohl längst wieder ein Polizist vor dem
Haus. Und sie stand hier, irgendwie verloren vor den Trümmern der Liebe ihres
Lebens, und wusste nicht mehr, wie sie mit Raphael umgehen sollte.
Zärtlich strich er ihr durchs Haar. Seine Liebe durchfloss sie wie
warme Sonnenstrahlen und löste, was vor Angst und Kummer erstarrt war. Tränen
stiegen ihr in die Augen. Es wurde Zeit, Abschied zu nehmen. Noch einmal
umarmte sie ihn, nahm alles in sich auf, was sie an Rafe erinnerte. Seine
dichten Wimpern, seinen Herzschlag, den Duft seiner Haut, das Gefühl selbiger
unter ihren Fingern … Es war hier, und doch war es nicht mehr er . Die Aura des Engels umgab sie mit Trost und
Geborgenheit, aber sie spürte kein Leben darin, keine Lebendigkeit. Spaß,
Albernheit, Leidenschaft, Begehren, Freude auf die gemeinsame Zukunft – alles
dies hatte sie mit Rafe geteilt, hatte ihr Leben und ihre Liebe reicher, bunter
und glücklicher gemacht. Und sie vermisste es, noch immer, auch und gerade
jetzt, da der Engel sie in den Armen hielt. Niemals würde es
zwischen uns so sein, wie es damals war.
Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten, konnte die Worte
nicht aussprechen, die gesagt werden mussten. Bist du sehr
enttäuscht von mir?
Für einen Moment drückte er sie ein wenig fester an sich. »Nein. Ich will, dass du glücklich bist, und das wirst du mit mir
niemals sein. Meine Liebe zu dir hat es mir schwer gemacht, dieses Wissen zu
akzeptieren, aber es ist wahr. Du bist ein Wesen aus Fleisch und Blut, eine
Seele in einen Körper geboren, um ein Schicksal zu erfüllen. Du hast mehr
verdient, als ein Engel dir geben kann.«
Heißt das, dass wir uns nie wiedersehen werden? Es schien ihr plausibel. Kafziel hatte sein Opfer bekommen und vielleicht das
Interesse an ihr verloren. Vielleicht … brauchte sie auch keinen Beschützer
mehr, weil sie gelernt hatte, ihm auch allein entgegenzutreten. Mit
tränenverschleiertem Blick sah sie zu Raphael auf.
Er küsste sie sanft auf die Stirn. »Das muss es nicht. Uns verbindet
noch immer etwas. Ich werde für dich da sein, wenn du Hilfe brauchst.«
»Sophie?« Schritte näherten sich auf dem verräterischen Parkett.
Hastig löste sich Sophie von Raphael und wischte die Tränen weg.
»Adieu, Sophie«, flüsterte er.
Als Madame Guimard den Kopf zur Tür hereinsteckte, war er bereits
verschwunden.
G ottverdammt«, knurrte Tiévant. Das ist der Vorraum zur Hölle. So tief unter der Erde
fühlte er sich ohnehin nie wohl, doch dieser Pesthauch gab ihm den Rest.
Metallischer Blutgeschmack mischte sich in die abgestandene, nach Moder
riechende Luft. Es stank nach Urin und – der Teufel mochte wissen, woher – nach
Schwefel. Er wünschte, er hätte die Ausrüstung der Kollegen von der
Spezialeinheit dabei, die auch eine Gasmaske umfasste, aber so wie die Dinge
standen, musste er irgendwie ohne Maske
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