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Der Kuss des Jägers

Der Kuss des Jägers

Titel: Der Kuss des Jägers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lukas
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so wie ich vieles einfach weiß. Aber ich habe keine Bilder
davon, wie du sie in deinem Gedächtnis hast. Ich kann mich nach wie vor an
nichts erinnern, was vor meinem ersten Moment als Engel liegt.«
    »Aber warum …«
    »Weil ich nichts mehr vor dir zu verbergen habe«, fiel er ihr ins
Wort. »Und es ist viel ungezwungener, dir in der Sprache zu antworten, in der
du denkst.«
    Das konnte sie nachvollziehen. Trotzdem wäre ihr die andere
Erklärung lieber gewesen. Er kam ihr so viel mehr wie »ihr« Rafe vor. Alle
Vorbehalte, die sie dem gefallenen Engel entgegengebracht hatte, weil er sich
so ungewohnt benommen hatte, schwanden. Durfte sie ihn nicht endlich wieder
ungehemmt lieben? Er stellte doch keine Gefahr mehr für sie dar. »Aber als du
noch Gadreel warst – der bist du doch nicht mehr, oder?«
    »Nein, mein Name ist Raphaël.«
    »Okay.« Es noch einmal bekräftigt zu hören, tat ihr erstaunlich gut.
»Aber als du noch der andere warst, hast du gesagt, dass du manchmal das Gefühl
hast, mich zu kennen. War das … nur eine Lüge, um mich einzuwickeln?«
    Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich darüber nachdenke, habe ich dich
erstaunlich wenig belogen. Es war gar nicht nötig.«
    Der Verdacht beschlich sie, dass das kein Kompliment war, doch sie
wollte sich jetzt nicht vom Thema abbringen lassen. »Was ist mit diesem Gefühl?
Ist das keine Erinnerung?«
    »Nicht direkt«, befand er nach einem Augenblick des Schweigens. »Es
ist mehr eine Ahnung, und das gehört zu den seltsamen Dingen an dir, denn Engel
sollten keine Ahnungen haben. Sie wissen oder sie wissen nicht. Es gibt nichts
dazwischen.«
    Verblüfft sah sie zu ihm auf. Wie musste es sein, wenn man in allem
stets Gewissheit hatte? Sie konnte es sich nicht vorstellen. »Du fragst dich
nie, was du von etwas halten sollst?«
    »Nein. Ich weiß, wie ich Dinge und Menschen einzuschätzen habe,
sobald ich sie ansehe.«
    »Du zweifelst nie, was richtig ist oder falsch?«
    »Ein Mal.« Er runzelte die Stirn. »Ich zweifelte an Gottes
Ratschluss, handelte ihm entgegen – und schon war ich gefallen.«
    »Also machst du dir doch Gedanken«, stellte sie fest.
    »Im Augenblick zu viele über dich.«
    Sie spürte, wie er sich versteifte, obwohl er seinen Griff um sie
verstärkte.
    »Ich fühle mich so stark zu dir hingezogen, dass es mich verwirrt.
Du hattest gestern den Eindruck, ich würde dich im Stich lassen, aber das
könnte ich nicht. Ich will, dass du glücklich bist.«

    Die winzige Nase bebte, die Barthaare zuckten. Jean lag
auf einer Schaumstoffmatratze und sah der Ratte, die am Verband um seine Hand
schnupperte, in die schwarzen Knopfaugen. Wag es, und ich
bring dich um!
    Das braune, pelzige Tier erwiderte seinen Blick. Ohren und Nase
richteten sich nun ebenfalls auf sein Gesicht. Er fletschte die Zähne. Die
Ratte schien zu verstehen. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, wich sie ein Stück
zurück, um plötzlich quiekend einen Meter zur Seite zu schnellen, als eine
volle Wasserflasche wie aus dem Nichts geflogen kam und genau auf dem Fleck
landete, wo der Nager gesessen hatte.
    Im letzten Sekundenbruchteil zog Jean seine Hand weg. Die Schnitte,
die die Rasierklinge des Dämons in seinen Fingern und der Handfläche
hinterlassen hatte, schmerzten schon bei der Vorstellung des Aufpralls.
»Scheiße, David, du hättest mich fast getroffen!« Er drehte sich zu dem
schlaksigen Schwarzen um, der die zwanzig kaum überschritten haben konnte und
in diesem Loch einsaß, weil er angeblich Autos angezündet hatte. Was er
bestritt. Er behauptete, er habe mit Drogen gedealt und manchmal geklaut, aber
nie einen Wagen angesteckt. Jean war es gleich. Das Ergebnis war dasselbe. Sie
hockten gemeinsam mit Driss in einer Zelle, die nicht größer war als sein
Badezimmer. Die Matratze hatte gerade so auf den Boden zwischen den beiden
Pritschen gepasst.
    »Bist du ’ne Pussy, oder was?«, schimpfte David. »Wenn ich die
Scheißbiester kriegen kann, schlag ich zu, kapiert?«
    Jean warf dem Jüngeren einen verächtlichen Blick zu. Sollte er sich
mit dem Großmaul anlegen? Er hatte keine Ahnung, wie lange sie es noch
miteinander aushalten mussten, aber der Kerl sollte nicht glauben, dass er ihn
als Fußabtreter benutzen konnte. »Ich wette, du hast noch kein Einziges
erwischt.«
    Hinter ihm brach Driss in Gelächter aus. »Scheiße, Mann, voll ins
Schwarze! Der Arsch trifft sie nicht mal, wenn sie auf seiner Brust sitzen.«
    David schoss dem großen, aber schmächtigen

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