Der Kuss des Jägers
annimmst.«
»Immer, wenn ich mich in einen Mann verliebe, der dir nicht genehm
ist, erzählst du mir, ich soll Vernunft annehmen. Als ob ich kein Hirn hätte!«
»Na, was waren das denn für hirnverbrannte Zukunftspläne mit diesem
Rafael? Dschungeldoktor in der Dritten Welt! Wir sehen ja, wohin ihn das
gebracht hat.«
Sophie spürte die Flammen der Wut in sich auflodern. Beinahe wäre
sie aufgesprungen, stattdessen krampfte sie die Finger um die Tischkante, bis
die Wunde unter dem Verband warnend stach. Sie würde nicht weglaufen, sondern
die Stirn bieten. »Wag es nicht, sein Andenken zu beschmutzen! Er war ein
besserer Mensch als wir alle, und ganz besonders als du!«
Ihre Mutter erbleichte.
»Das reicht, Sophie!« Die Stimme ihres Vaters schnitt die Luft wie
eine Peitsche. »Hier wird niemand beleidigt!«
»Aber das hat sie doch gerade schon!«
»Und ich sage: Schluss damit!«
Sophie sah den betretenen Seitenblick, den er auf Madame Guimard
warf, und war sofort peinlich berührt. Was dachte sie jetzt wohl von ihnen?
Ihre Mutter verzog sauertöpfisch den Mund. »Ich weiß nicht, warum du
dir immer solche Flausen in den Kopf setzen musst. Was denkst du dir nur dabei?
Jetzt ist es also dieser inhaftierte Franzose …«
Stumm schüttelte Sophie den Kopf. Sie hatte sich auf den neuen Rafe
bezogen, doch von ihm würde sie ganz gewiss nicht mehr erzählen. Sollte ihre
Mutter glauben, sie meine Jean. Vielleicht hätte sie damit sogar recht, wenn
Rafe nicht gewesen wäre.
Ihr Blick fiel auf die linke Hand ihres Vaters. Schon zuvor war ihr
aufgefallen, dass auch er heute einen Verband trug, doch sie war zu sehr
abgelenkt worden, um einen Gedanken daran zu verlieren. »Was ist mit deiner
Hand passiert?«, erkundigte sie sich erleichtert, das Thema wechseln zu können.
Er zuckte die Achseln. »Nur ein Missgeschick beim
Rasierklingenwechsel.«
Sophies Kehle verengte sich. Solange sie denken konnte, hatte er
sich noch nie beim Rasierklingenwechsel geschnitten.
O b eine Linie aus Salz Kafziel
tatsächlich beeindruckte? Sophie bezweifelte es. Außerdem konnte sie nicht
einfach Salz auf das Fensterbrett und die Türschwelle streuen. Madame Guimard
würde vermutlich sofort einen Arzt für sie rufen – und dann zum Putzlappen
greifen.
Sie sah von dem Buch auf, das angeblich »Die Quintessenz der Magie«
enthielt, ihr jedoch eher wie ein Sammelsurium des Aberglaubens vorkam. Zum
Glück hatten ihre Eltern ihr geglaubt, dass sie – sicher aufgrund des
Blutverlusts – müde war und sich deshalb aufs Bett hatte zurückziehen wollen.
Sie waren losgezogen, um in der Zwischenzeit ein paar Sehenswürdigkeiten zu
besichtigen, wenn es sie schon unverhofft nach Paris verschlagen hatte. Sicher hat Madame Guimard genauso aufgeatmet wie ich, dachte Sophie bei der Erinnerung an die Szene am Mittagstisch. Arme Madame. Jetzt hat sie meinetwegen ihren Urlaub verschieben
müssen – und auch noch meine Eltern am Hals.
Aus den Tiefen ihrer Tasche verlangte das Handy piepend nach Strom.
Als sie es herausfischte, entdeckte sie, dass es noch immer eine ungelesene
Nachricht anzeigte. Bestimmt machte sich Lara schon Sorgen, weil sie nicht
antwortete.
»Hallo, Sophie! Ich kann nicht so stehen lassen, wie wir uns gestern
Abend getrennt haben. Können wir uns bitte treffen? Rafe«
Sie starrte auf die Nachricht und doch durch sie hindurch. Die SMS war auf Deutsch, und erst jetzt wurde ihr bewusst,
dass Rafe auch am Vorabend Deutsch gesprochen hatte. Ihr war wohl nichts
darüber eingefallen, weil es so vertraut gewesen war, während ihr das
akzentfreie Französisch aus seinem Mund immer fremd geblieben war. Und dann ein
»Bitte«! Als gefallener Engel hatte er sie nie um etwas gebeten, nur gefordert.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Er benimmt sich wieder wie
der Rafe, den ich kenne.
An der Westspitze der Île Saint-Louis ging es unerwartet
geschäftig zu. Als Sophie auf dem von einer steinernen Brüstung eingefassten
kleinen Platz ankam, stand ein Mann hinter einem Stativ mit einer großen,
professionell aussehenden Kamera und diskutierte mit einer Frau wohl die Fotos,
die er gerade gemacht hatte. Das Objektiv war nach unten auf das befestigte
Ufer am Fuß der Kaimauer gerichtet, die so hoch war, dass nur die Kronen der
unten wachsenden Bäume heraufragten und dem Platz Schatten spendeten.
Auf der Suche nach Rafe trat Sophie näher und spähte über die Mauer.
Etliche Meter unter ihr hatten Rockmusiker in schwarzen T -Shirts
ihr
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