Der Kuss des Jägers
Maghrebiner einen Blick
zu, der töten sollte. »Wenigstens bin ich nicht mit ihnen verwandt.«
»Willst du meine Familie beleidigen?«
Die beiden jungen Männer sprangen gleichzeitig auf und starrten sich
drohend an. Jean sah sie auf ihren Pritschen wie seltsam schmalbrüstige Riesen
über sich aufragen, zwei kampfbereite zornige Hähne, denen nur noch das
gesträubte Gefieder fehlte. Der eine dunkel wie Zartbitterschokolade, mit kurz
geschorenem Kraushaar, der andere fast so hell wie Jean, nur das gelockte Haar
war schwarz und stand ihm vom Schlaf wirr um den Kopf. Ihre Flüche und
Drohungen wogten über ihm hin und her. Stimmen aus benachbarten Zellen mischten
sich ein, ergriffen Partei. Er versuchte, sie nicht zu hören, und sehnte sich
nach einer Zigarette. In der Kantine gab es Tabak zu kaufen, doch da er bei
seiner Verhaftung nur ein paar Euro bei sich getragen hatte, hätte er dafür
Schulden machen müssen. Schulden, Rassenhass, Beleidigungen … Dies hier war
nicht seine Welt. Der Streit, der über ihm tobte, ging ihn nichts an. Bis zum
nächsten Anhörungstermin hatte man ihn vom Polizeirevier in dieses Gefängnis
verlegt. Absolut üblich, wie Geneviève ihm bedauernd mitgeteilt hatte. Nicht,
dass es in den Arrestzellen im Keller des Reviers angenehmer gewesen wäre. Hier
gab es wenigstens mehr Licht und Luft, auch wenn es in der Hitze nach Urin und
faulenden Abfällen stank, weil die Toilette keine Tür und der Mülleimer keinen
Deckel hatte.
Vielleicht habe ich nichts Besseres verdient.
Sophie wäre fast gestorben, nur weil er in seiner Eifersucht den
gefallenen Engel aufgehalten hatte. Ohne mit ihm, dem langsamen Menschen,
Straßen entlanglaufen und mit der Métro herumgondeln zu müssen, hätte Gadreel
in Sekundenschnelle bei Caradec und danach auf dem Friedhof sein können. Er
hätte eingreifen können, bevor der Dämon die Klinge materialisiert, bevor der
Stahl Sophies Haut auch nur geritzt hatte. Ich habe ihn
behindert, weil ich nicht wollte, dass sie ihm als glorreichem Retter in die
Arme sinkt. Und was hatte es ihm gebracht? Der Staatsanwalt machte ihn
für Caradecs Tod verantwortlich, er hatte dem geifernden Gournay endlich den
Anlass geliefert, ihn hinter Gitter zu bringen, und Gadreel hatte trotzdem die
Heldenrolle gespielt. Aus den völlig falschen Motiven. Aber davon würde Sophie
nichts ahnen. Sie sah sicher nur, dass er für sie gekämpft, gesiegt und sie
schließlich ins Krankenhaus gebracht hatte. Was zählte dabei schon, dass er –
Jean – dem gefallenen Engel hatte sagen müssen, wo sie zu finden war?
»Hey, Alter, bist du auf Drogen, oder was?«
Widerwillig richtete Jean den Blick auf David, der wieder auf seiner
Pritsche saß und ihn verblüfft ansah. »Nein. Aber ich könnte eine Zigarette
vertragen.«
»Willst du das Vorstellungsgespräch wirklich nicht
verschieben?«, fragte Madame Guimard besorgt. »Du hast eine gute Entschuldigung
dafür, dich nicht auf der Höhe zu fühlen.«
Sophie schob sich das letzte Stück Croissant in den Mund und
schüttelte den Kopf. »Es ist mein einziger Termin diese Woche. Das schaffe ich
schon. So eine Absage macht sich nie gut.« Die Leute
vergessen den Grund und merken sich nur, dass etwas nicht geklappt hat.
Nachdenklich spülte sie die Krümel mit Milchkaffee hinunter, bevor
sie in ihr Zimmer ging, um sich passend anzuziehen. So wie
ich mich von Rafe im Stich gelassen fühlte, ohne mich um seine Gründe zu
scheren. Dass er ihr am Abend zuvor noch einmal versichert hatte, wie
sehr er sich um sie sorgte und wie stark es ihn zu ihr hinzog, hatte sie
beruhigt. Eigentlich hatte er gar nicht so unrecht. Wenn sie gegen Kafziel
bestehen wollte, musste sie mehr Verantwortung für sich übernehmen, anstatt
sich auf andere als Beschützer zu verlassen. Sie war
es gewesen, die auf seine Lügen hereingefallen und freiwillig mit ihm gegangen
war. Das würde ihr nicht noch einmal passieren.
Ihr Blick suchte die Tasche mit den Büchern aus dem L’Occultisme , die sie nicht offen herumliegen lassen
wollte. Sich Wissen anzueignen, war ein erster Schritt – auch wenn sie bislang
wenig Brauchbares gefunden hatte. Wenn sie den Dämon dann auch noch mutig und
entschlossen abwies, sobald er sie wieder bedrohte, würde Rafe sehen, dass sie
auch selbst auf sich aufpassen konnte.
Aber wenn er dafür andere leiden lässt? Rasch verdrängte sie den Gedanken. Bestimmt war es nur ein dummer Zufall, dass
sich ihr Vater geschnitten hatte. Wenn Kafziel
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