Der Kuss des Jägers
hieß
nicht mehr Rafael Wagner. Den Namen eines toten Deutschen zu nennen, brächte
ihnen außerdem nur noch mehr Schwierigkeiten ein. »Ich verstehe, dass Sie
annehmen, ich würde Ihnen den Namen verheimlichen. Aber was sollte das denn
nutzen?«
»Sie verzögern damit die Ermittlungen und verschaffen ihm mehr Zeit
zur Flucht?«, befand der Capitaine lakonisch.
Sophie verzog das Gesicht. Darauf hätte sie auch selbst kommen
können. Aber … »Wäre es dann nicht sehr viel klüger gewesen, ihm ein Alibi zu geben?
Ich hätte behaupten können, dass er viel früher als Jean auftauchte.«
»Damit würden Sie Méric belasten, was Sie offensichtlich auch nicht
wollen.«
»Sie können einem wirklich jedes Wort im Mund umdrehen.«
Der Brigadier sah sie missbilligend an, während sein Vorgesetzter
milde lächelte.
»Mir wäre natürlich lieber, ich könnte Monsieur Raphaël selbst
befragen. Vielleicht möchten Sie uns ja seine Adresse geben.«
Die Adresse eines schäbigen, kleinen Zimmers, in
dem er sich womöglich nur ein einziges Mal aufhielt, um mich ins Bett zu locken
… Und sie werden denken, er sei auf der Flucht.
I ch komme gleich wieder«, rief
Sophie ihren Eltern zu, die Madame Guimard in das salonhafte Wohnzimmer
dirigierte.
Die alte Dame sah in ihrem eleganten Rock und der Seidenbluse geradezu
mondän aus und sprach freundlich auf die Gäste ein, obwohl sie kaum ein Wort
verstanden. Dennoch lächelten und nickten sie höflich.
»Ich bringe nur schnell die Tasche in mein Zimmer.« Als sie den
mittlerweile vertrauten Flur entlangging, dessen Parkett wie stets unter ihren
Füßen knirschte und federte, wünschte sie, sie könne sich zurückziehen und für
heute einfach nicht mehr auftauchen. Den ganzen Weg vom Krankenhaus in Madame
Guimards Wohnung hatte ihr Vater das Verhör der Polizisten fortgesetzt, indem
er sich das Gespräch so genau wie möglich wiedergeben ließ, während ihre Mutter
zwischendurch auf sie eingeredet hatte, wieder mit nach Stuttgart zu kommen.
Letzteres war eindeutig schlimmer.
Sie öffnete die Tür, floh förmlich ins Zimmer und wollte gerade die
Tasche von sich werfen, als sie in der Bewegung erstarrte. Auf der
Fensterscheibe prangten krude Buchstaben. An einigen Stellen leuchteten sie
rot, an anderen waren sie zu rötlichem Braun getrocknet. Sophie starrte auf die
hingeschmierten Worte: Das ist das Blut des Bundes …
Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss. Mit rasendem Herzen wirbelte
sie herum.
»Er war hier«, bestätigte Rafe.
Unwillkürlich legte sie sich die Hand auf die Brust, als könne sie
ihren Herzschlag damit beruhigen. »Himmel, hast du mich erschreckt! Du kannst
hier nicht bleiben. Meine Eltern! Die erkennen dich doch sofort!«
Er schüttelte den Kopf. »Sie können mich nicht sehen. Dieses Bild
ist nicht für ihre Augen bestimmt.«
Bild? Sie betrachtete ihn genauer. War
nicht alles wie immer? Das offene, gewinnende Lächeln, die Augen, deren tiefes
Blau zu leuchten schien, die dunklen, etwas zerzausten Locken. Außerdem trug er
Jeans und ein weißes T -Shirt – wie jedes Mal, seit
sie ihn wiedergefunden hatte. Und doch … Zögernd streckte sie die Hand aus. Sie
sehnte sich danach, seine warme Haut wieder unter ihren Fingern zu spüren,
ahnte aber, dass etwas nicht stimmte. Im gleichen Moment, da ihre Hand
hineintauchte, verblasste das Bild, wurde beinahe durchsichtig. Sie fühlte
nichts als Überraschung und Enttäuschung, nicht einmal ein Kribbeln, das ihr versichert
hätte, dass dort irgendetwas war.
»Es ist nur eine Illusion«, sprach Rafe das Offensichtliche aus.
Jean hatte behauptet, das sei ihre Marotte, aber vielleicht hatte sie sie nur
von Rafe übernommen? Warum kam seine Stimme von dem Trugbild her, wenn es dort
nichts gab?
»Es gehört dazu. Die Täuschung muss möglichst echt sein, wenn ein
Engel auf diese Art einem Menschen begegnen will.«
»Aber …« Weshalb war er nicht körperlich zu ihr gekommen, wie er es
sonst getan hatte?
»Weil wir nicht viel Zeit haben«, antwortete er auf die
unausgesprochene Frage. »Komm in zwei Stunden die Straße hinauf vor das Collège
de France, dann können wir in Ruhe reden.«
»Bin ich hier denn sicher?« Sie deutete beunruhigt auf die mit Blut
geschriebene Botschaft des Dämons.
»Das stammt aus dem zweiten Buch Moses, Kapitel 24 ,
Vers 8 . Er verhöhnt Gott und versucht, dir Angst zu
machen.«
Das ist ihm gelungen.
»Gib ihm nicht nach! Er braucht dich als freiwilliges Opfer. Wenn
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