Der Kuss des Jägers
gezwungen.« Ein gefallener Engel konnte nicht anders,
als Böses zu tun. »Aber jetzt steht er wieder auf der richtigen Seite.«
»Aha.« Lara klang wenig überzeugt.
»Hey, er hat mein Leben gerettet! Kaf… äh, dieser Satanspriester hat
mir die Pulsadern aufgeschnitten! Ich wäre verblutet, wenn Raphaël mich nicht
befreit und ins Krankenhaus gebracht hätte.«
»Die wollten dich umbringen?«, rief Lara aus.
»Ein Opfer für …«
Es klopfte an der Tür, und schon steckte ihre Mutter den Kopf
herein. »Sophie, es wird spät. Dein Vater und ich wollen etwas essen und ins
Hotel gehen.«
Überrascht sah Sophie auf die Uhr. Unter »spät« verstand sie etwas
anderes, aber es würde auch bald Zeit für ihre Verabredung mit Rafe sein. »Ja,
ich komme, Mama. Lara, ich muss Schluss machen. Kann ich dich morgen
zurückrufen?«
»Ausgerechnet jetzt. Na, ich bin jedenfalls froh, dass es dir schon
wieder gut geht. Das muss ja die Hölle gewesen sein. Bis morgen dann!«
Sophie warf einen letzten Blick auf die geschlossenen
Vorhänge, doch solange Madame Guimard noch wach war, durfte sie nicht
riskieren, mit einem Eimer blutroten Wassers über den Flur zu huschen. Unter
ihrem Verband spürte sie nadelfeine Stiche, und nach den vielen anstrengenden
Gesprächen fühlte sie sich erschöpft. War das normal, oder machte ihr der
Blutverlust doch mehr zu schaffen, als sie geglaubt hatte?
Trotzdem wollte sie hinaus. Sie musste weg von Kafziels Schmiererei,
sie brauchte frische Luft – und sie brauchte Rafe.
»Ich muss mir noch mal die Beine vertreten«, rief sie im Vorbeigehen
in die Küche, wo sie ihre Vermieterin mit Geschirr klappern hörte.
Während sie Schuhe und Jacke anzog – draußen drohten graue Wolken
ein neues Gewitter an –, kam Madame Guimard in den Flur. »Geht es dir auch gut
genug? Du siehst blass aus.«
Sophie winkte ab. »Es wird mir besser gehen, wenn ich ein bisschen
draußen war.«
»Vielleicht.« Die alte Dame wiegte den Kopf. »Aber ist es auf der
Straße auch sicher für dich? Noch hat man diese Leute nicht verhaftet, soweit
wir wissen.«
»Ich glaube nicht, dass sie mich verfolgen.« Jedenfalls
nicht jene, die die Polizei schnappen kann. Sie rang sich ein Lächeln
ab, um zuversichtlich auszusehen. »So dumm werden sie nicht sein. Ich will auch
gar nicht lange wegbleiben. Ich treffe mich nur mit jemandem – gleich vorn an
der Rue des Ecoles.«
Aus Madame Guimards Augen lachte plötzlich der Schalk. Oder war es
nur Neugier, die darin aufblitzte? »Mit dem jungen Mann, der dich gerettet
hat?«
Sophie zögerte. Falls Lacour überraschend auftauchte und die alte
Dame verhören wollte, war es vielleicht besser, wenn sie nichts Konkreteres
wusste. »Es dauert wirklich nicht lange«, versicherte sie und floh ins
Treppenhaus. »Bis später!«
Die ersten Stufen hastete sie noch hinab, dann ließ das Gefühl nach,
dass jeder sie aus Sorge an die Kette legen wollte. Zugegeben, sie war in Gefahr, aber vor Kafziel würde sie nirgends sicher
sein – außer bei Rafe.
Vier Stockwerke tiefer herrschte angenehme Kühle. Sie hatte gar
nicht mehr bemerkt, dass die Hitze der letzten Tage immer noch wie eine
drückende Dampfwolke über der Wohnung lag. Erst jetzt, da sie aufatmen konnte,
spürte sie die Last von ihrer Lunge weichen. Sobald sie die schwere, alte
Holztür geöffnet hatte, fühlte sie sich noch freier und leichter. Da wieder
Wolken die Sonne verdeckten, herrschte auf der Straße verfrühtes Dämmerlicht,
doch es war längst nicht mehr so schwül wie vor dem Sturm, der während des
Kampfs zwischen Kafziel und Rafe gewütet hatte.
Außer ein paar Touristen auf dem Weg in die belebteren Gassen des
Quartier Latin und vereinzelten Einheimischen beim abendlichen Einkauf begegnete
ihr niemand. Die Stille der großen Ferien hatte sich über die alten Häuser aus
grauem Stein gelegt. Trotz der frühen Stunde waren einige Fensterläden
geschlossen und würden es für die nächsten Wochen bleiben. Die Tür des Bäckers
an der Ecke sicherte nun ein herabgelassenes Gitter, neben dem ein Schild
Betriebsferien bis Ende August verkündete. Wirklich nicht
die beste Zeit für meine vielen Bewerbungen, stellte Sophie fest,
während sie die leicht ansteigende Straße hinaufging. Madame Guimard würde
vermutlich recht damit behalten, dass sie sich vor September keine großen
Hoffnungen auf Bewerbungsgespräche zu machen brauchte.
An der Kreuzung mit der Rue des Ecoles herrschte etwas mehr Verkehr,
doch auch
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