Der Kuss des Meeres
Ungläubigkeit schwankt. » Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich daran erinnern, aber bei Ihrem Besuch im Sommer war er nicht hier. Er ist vor einigen Wochen am Ufer drüben in Panama City gestrandet. Er ist der einzige, der nicht in Gefangenschaft geboren wurde. Wir haben ihn Lucky genannt. Aber ich schätze, er würde widersprechen.«
Emma nickt. » Es gefällt ihm hier nicht. Warum ist er gestrandet?« Inzwischen hat Lucky sich näher an Emma herangetraut. Sie streckt eine Hand nach ihm aus, nicht um ihn zu streicheln, sondern als Einladung, dass er sie zuerst berühren darf. Nach einigen unentschlossenen Sekunden schmiegt er seine Nase in ihre Hand.
» Das wissen wir nicht. Er war nicht krank oder verletzt und er ist relativ jung. Wie er von seiner Schule getrennt wurde, ist nicht klar.«
» Ich denke, dass Menschen etwas damit zu tun hatten, dass er gestrandet ist«, sagt sie. Galen ist überrascht über die Bitterkeit in ihrer Stimme. » Kann er jemals wieder nach Hause zurückkehren?«, fragt Emma, ohne aufzublicken. Die Art, wie sie Luckys Kopf krault, erinnert Galen daran, wie seine Mutter früher mit ihren Fingern Raynas Haar liebkost hat, um ihr beim Einschlafen zu helfen. Schon die bloße Berührung wirkte wie ein Schlaflied. Und jetzt sieht es so aus, als empfinde Lucky das Gleiche.
» Normalerweise nicht, meine Liebe. Aber ich werde sehen, was ich tun kann«, erwidert Dr. Milligan.
Emma schenkt ihm ein klägliches Lächeln. » Das wäre gut.«
Galen kann sich gerade noch bremsen, den Kopf zu schütteln. Wenn Dr. Milligan dieses Lächeln nur halb so viel bedeutet wie ihm, dann wird Lucky im Handumdrehen frei sein.
Nach einigen Minuten sagt Dr. Milligan: » Meine Liebe, ich hasse es zwar, Sie von hier loseisen zu müssen, aber vielleicht könnten wir jetzt in den Untersuchungsraum gehen.«
» Nun, sie hat definitiv dicke Haut, nicht wahr?« Dr. Milligan begutachtet nun schon die zweite Nadel, die er beim Versuch, in Emmas Ader einzudringen, verbogen hat. » Ich schätze, ich muss schwerere Geschütze auffahren.« Er wirft die Nadel in den Abfall, um in der obersten Schublade eines Edelstahlschranks zu stöbern. » A-ha. Das sollte genügen.«
Emmas Augen werden kreisrund wie Seeigel. Sie presst die Beine gegen die Oberfläche des Metalltisches, auf dem sie sitzt. » Das ist keine Nadel, das ist ein Strohhalm!«
Galen unterdrückt den Reflex, ihre Hand in seine zu nehmen. » Die benutzt er bei mir auch. Es tut nicht weh, es pikst nur ein wenig.«
Sie richtet ihre riesigen violetten Augen auf ihn. » Du lässt dir von ihm Blut abnehmen? Warum?«
Er zuckt die Achseln. » Es ist eine Art Tausch. Ich gebe ihm Blutproben, die er untersuchen kann, und er informiert mich darüber, was seine Kollegen so treiben.«
» Was meinst du mit ›seine Kollegen‹?«
Galen hievt sich auf die Theke ihr gegenüber. » Dr. Milligan ist ein bekannter Meeresbiologe. Er hat den Überblick über alles, was unsere Art betreffen könnte. Du weißt schon, neue Forschungsinstrumente, Schatzjäger, solche Sachen.«
» Um dich zu beschützen? Oder nur um dafür zu sorgen, dass du den Schatz zuerst erreichst?«
Galen grinst. » Beides.«
» Hat noch jemand schon mal gesehen– AUTSCH !« Sie reißt ihren Blick von Galen los und richtet ihn prüfend auf ihren Arm, wo ihr Dr. Milligan Blut abnimmt und dabei entschuldigend lächelt. Emma funkelt erneut Galen an. » Es pikst nur ein bisschen, hm?«
» Es dient einem höheren Zweck, Engelfisch. Das Schlimmste ist überstanden. Du willst doch immer noch, dass er dir hilft, oder?« Mit seinem vernünftigen Tonfall macht sich Galen nicht gerade beliebter.
» Komm mir nicht mit ›Engelfisch‹. Ich habe zugestimmt, diese Untersuchungen durchführen zu lassen, aber ich werde mich nicht ausquetschen lassen wie einen Schwamm! AUTSCH !«
» Tut mir leid, nur noch ein weiteres Röhrchen«, flüstert Dr. Milligan.
Emma nickt.
Als Dr. Milligan fertig ist, reicht er ihr ein Stück Mull, das sie sich auf das Loch in ihrem Arm pressen kann. Darauf hat sich bereits Schorf gebildet. » Galens Blut gerinnt auch schnell. Sie brauchen den Mull wahrscheinlich nicht einmal festzuhalten.« Er legt ein halbes Dutzend Blutröhrchen in die Schüttelmaschine und drückt den Schalter herunter. Dann nimmt er eine kleine, weiße Schachtel von einem Regal und fragt: » Emma, haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihren Blutdruck messe?«
Sie schüttelt den Kopf, fragt aber trotzdem: » Warum haben Sie
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