Der Kuss des Meeres
keiner ihrer Knochen die gleiche Dichte.«
» Aber was bedeutet das?«, fragt Galen stirnrunzelnd. Ich bin froh, dass ich nicht die Einzige bin, die Mühe hat, Dr. Milligan zu folgen. Ein Teil meiner Gedanken hat sich an den Luftzug geheftet, der sich in diesem überdimensionalen Krankenhaushemd wie ein Windstoß anfühlt, und der Rest ist noch mit Dr. Milligans Andeutung beschäftigt, dass ich hundertfünfundsiebzig Jahre alt werde. Das ist selbst unter den gegebenen Umständen ein bisschen verrückt. Ich bin Hunderte von Meilen von zu Hause entfernt, halb nackt in einem Raum mit zwei Männern, die ich kaum kenne. Wenn man das so, aus dem Zusammenhang gerissen, betrachtet, müsste ich an meinem Verstand zweifeln. Verdammt, sogar im Zusammenhang betrachtet wird es nicht besser .
Dr. Milligan zuckt die Achseln. » Ich bin mir nicht sicher. Ich schätze, es könnte Verschiedenes bedeuten. Es gibt immer noch so viel über deine Art, was ich nicht weiß, Galen. Wachstumsmuster zum Beispiel. Vielleicht haben sich Emmas Knochen nicht voll entwickelt, weil sie ihr Leben an Land verbringt. Genauso wie ihre Hautfarbe. Vielleicht reagiert der Syrenakörper auf etwas im Wasser, das die Entwicklung der Pigmentierung auslöst. Das ist jedoch nur eine Vermutung. Wirklich, ich habe keine Ahnung.«
Galen schaut mich an und aus jedem Gesichtszug lugt mir die Sorge entgegen. Ich weiß, es beunruhigt ihn, wenn ich still bin. Er wäre wahrscheinlich überrascht herauszufinden, dass ich eigentlich immer still bin, nur nicht in seiner Nähe. » Emma, möchtest du Dr. Milligan noch etwas fragen?«
Ich beiße mir auf die Lippe und ziehe das Krankenhaushemd fester um mich. » Warum kann ich mit Fischen sprechen? Warum verstehen sie alle Englisch? Und sagen Sie jetzt nicht, dass es Magie ist.« Das ist nicht die Frage, die ich stellen will, aber es ist trotzdem eine gute Frage, und die Antwort wird mir Zeit verschaffen, um das Selbstbewusstsein wiederzugewinnen, das ich verloren habe, als ich in dieses Hemd geschlüpft bin.
Dr. Milligan lächelt und nimmt die Brille ab. Er poliert sie mit seinem Laborkittel und sagt: » Nun, meine Liebe, Galen ist überzeugt davon, dass das ebenfalls genetisch bedingt ist. Falls es genetisch ist, glaube ich kaum, dass es irgendetwas mit Magie zu tun hat. Des Weiteren bin ich nicht überzeugt, dass Meerestiere eine so komplexe Sprache wie Englisch verstehen können. Wenn es so wäre, würde niemand mehr einen Köder auswerfen, richtig? Ein Angler würde lediglich einen Eimer ins Wasser werfen und den Fischen sagen, dass sie hineinschwimmen sollen.« Er lacht leise. » Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, es hat etwas mit dem Klang Ihrer Stimme zu tun. Wir wissen bereits, dass viele Meeresbewohner über Laute miteinander kommunizieren. Wale und Delfine zum Beispiel. Es ist möglich, dass Ihre Stimme eine Frequenz hat, die alle erreicht, oder einen speziellen Tonfall, den sie verstehen können. Es ist möglich, dass das, was Sie von ihnen wollen, nicht darüber vermittelt wird, was Sie sagen, sondern, wie Sie es sagen. Bedauerlicherweise habe ich nicht die Ausrüstung, um diese Theorie zu testen. Und ich werde sie auch leider nicht kurzfristig in die Hände bekommen.«
Ich nicke. Unsicher, wie ich darauf reagieren soll. Wie ich überhaupt auf irgendetwas von alldem reagieren soll.
» Gibt es sonst noch etwas, worüber du dir Gedanken machst, Emma?« Mit dieser Frage überrascht mich Galen. Ich überlege, warum wir uns überhaupt die Mühe mit den Röntgenaufnahmen gemacht haben, wenn Galen anscheinend direkt in mich hineinsehen kann, in mein tiefstes Inneres. Wie gestern Abend im Hotelzimmer. Als ich mich nach meinem fünfundvierzigminütigen Weinkrampf unter der Dusche wieder angezogen hatte, habe ich eine Schachtel mit schokoladenüberzogenen Erdbeeren auf meinem Kissen gefunden. Galen lag schon zusammengefaltet auf der hässlichen Couch und schlief.
Ich räuspere mich. » Dr. Milligan, ich bin mir nicht sicher, ob Galen Ihnen davon erzählt hat oder nicht, aber mein Vater war Arzt. Er hat sich um meine Triefnase gekümmert, meine Kratzwunden, meine Impfungen. Als er starb, hat sein Freund Dr. Morton das übernommen. Wie können sie meine Knochenstruktur und meinen langsamen Puls übersehen haben? Man sollte meinen, sie hätten bemerken müssen, dass mein Herz auf der falschen Seite meiner Brust ist. Ich meine, sind Sie sich sicher, dass Sie mit Ihrer Diagnose richtigliegen? Sie sind kein
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