Der Kuss des Meeres
Informationen über die Menschen, Romul«, sagt Galen, ohne zu zögern. Er ist immer noch auf der Hut, was Romuls Beteiligung an Groms Suche nach Paca betrifft, aber etwas über die Menschen zu erfahren, ist eine von Galens häufigsten Bitten. Romul wird wohl kaum Verdacht schöpfen, vor allem weil Galen Botschafter bei den Menschen ist.
Romul lächelt und nickt. Das schwarze Haar liegt lang und strähnig auf seinen Schultern. » Natürlich, mein Prinz. Was möchtet Ihr wissen?«
» Ich würde mir gern die Überreste von Tartessos ansehen. Und ich habe Fragen zu den Halbblütern.«
Romul zieht überrascht eine Augenbraue hoch. » Wie Ihr wünscht, junger Prinz. Hier entlang bitte.«
Galen folgt seinem Mentor tiefer in die Höhle. Sie passieren die Schriftrollenkammer, wenngleich die Bezeichnung nicht ganz auf das zutrifft, was dort aufbewahrt wird. Die empfindlichen Papyrusrollen über die verlorenen Zivilisationen der Menschheit sind vor langer Zeit zerfallen, aber die anderen Zeugnisse– Tafeln, Ton, Schmuck und manchmal sogar ganze Wände voller Hieroglyphen– werden in den eisigen Gewässern der Arktis bestens konserviert.
Die eisigen Temperaturen sorgen auch dafür, dass die Grabkammer– die riesige Katakombe mit den Toten der Syrena– unversehrt bleibt. Galen war noch nie selbst dort, aber Rayna hat ihre Mutter in den ersten Jahren nach ihrem Tod besucht. Das Grab sorgt dafür, dass die Überreste der Syrena niemals in Menschenhand fallen. Galen schaudert, als er an die weltweite Suche denkt, die gewiss folgen würde, wenn der Leichnam eines Syrena– oder auch nur ein Knochen– irgendwo an den Strand gespült werden würde.
Sie erreichen die Verwaltungskammer, die größte aller Kammern, in der die Ruinen von Städten aufbewahrt werden. Galen ist schon früher hier gewesen, viele Male, aber heute sieht er das alles zum ersten Mal durch die Augen eines Menschen– sozusagen. Oder vielmehr durch die Augen eines Halbbluts. Emma könnte sich hier tagelang verlieren, vielleicht sogar monatelang. Und er würde sie liebend gern hierherbringen, um ihr alles zu zeigen.
Romul führt ihn vorbei an den gewaltigen Überresten von Alexandria in Ägypten und an Artefakten aus Kleopatras Gemächern. Vorbei an einigen uralten Tempeln aus Thailand, die sorgfältig von ihrem Unterwasserstandort entfernt und hier, in der Höhle der Erinnerungen, wiederaufgebaut wurden. Vorbei an einer turmhohen Pyramide, vor Jahrhunderten an der Küste einer Insel namens Japan zerlegt und hier einer wohlverdienten Ewigkeit übereignet. Schließlich erreichen sie Tartessos, das für die Syrena die bedeutendste Stadt von allen ist.
Tartessos ist die von allen am besten erhaltene Stadt. Erbaut wie eine riesige Zielscheibe, war die Metropole kreisförmig angelegt worden, mit Straßen, die sich rund um die zentralen Gebäude ziehen. Romul und Galen überqueren die erste gerettete Brücke, die jetzt kein Wasser mehr überbrückt, sondern von allen Seiten umflossen wird. Sie schwimmen an einer Statue nach der anderen vorbei, die alle Poseidon darstellen– oder zumindest die menschliche Version seiner selbst. Sie sind immer noch atemberaubend, obwohl die meisten zerbrochen oder angeschlagen sind und Teile von Poseidons Flosse und seines Dreizacks fehlen.
Die Syrena haben sich der Wiederherstellung der Straßen mit Hingabe gewidmet und dabei genau auf alle Einzelheiten geachtet, bis hin zu den einzelnen Kopfsteinen des Pflasters. Romul und Galen folgen den bruchstückhaften Straßen, als sie über der Stadt durchs Wasser gleiten und passieren Gebäude, Brunnen und öffentliche Bäder. Galen kann sich leicht vorstellen, wie belebt dieser trostlose, verlassene Ort einst war und wie seine Bewohner ihren Überfluss an Gold, Silber und Kupfer gegen Nahrung, Kleidung und Dienstleistungen eintauschten. Aber was ist mit Leuten, die wie Emma aussehen?
Galen bekommt seine Antwort, als sie um die letzte Kurve zum Palast einbiegen, der genau im Herzen der Stadt liegt. Ihm stockt der Atem, als sie sich einer Mauer nähern, die er schon tausendmal gesehen, aber niemals wirklich wahrgenommen hat. Abbildungen von Menschen, die zu Ehren Poseidons riesige Bullen opfern. Die meisten von ihnen haben schwarzes Haar, olivfarbene Haut und violette Augen. Ihre Torsi weisen harte Linien auf, wahrscheinlich um den Körperbau zu betonen. Aber in einer Ecke des Wandgemäldes sind andere Menschen zu sehen. Menschen, die er noch nie zuvor bemerkt hat, weil ihre Umrisse
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