Der Kuss des Meeres
beinahe mit der Mauer verschmelzen. Weiße Haut. Weißes Haar. Violette Augen. Menschen, die wie Emma aussehen.
Galen räuspert sich. » Diese Menschen hier«, sagt er und fährt mit dem Finger über eine Gestalt, deren sanfte Kurven ihn an sie erinnern. » Wer sind sie?«
» Mein Prinz, keins der Abbilder an dieser Mauer zeigt Menschen. Das hier sind die Brüder der Syrena in ihrer menschlichen Gestalt. Und die hier«, fährt er fort, und seine Stimme ist voller Geringschätzung, » sind Halbblüter. Sogar ganz besondere, von Poseidon persönlich gezeugte.«
Galen versteift sich ob der Bitterkeit in Romuls Ton. » Richtig. Ich glaube, Sie haben sie schon einmal erwähnt, irgendetwas über Abartigkeiten… Ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Warum wurden sie gehasst?«
Romul schüttelt den Kopf. » Sie selbst wurden nicht gehasst. Nein, mein junger Freund. Tatsächlich liebte Poseidon seine halb menschlichen Kinder sehr. Das war ein Teil des Problems. Viele unserer Brüder haben sich für ihre menschlichen Gefährten geopfert.«
» Geopfert? Wie meinen Sie das?«
» Es ist in unserem kollektiven Gedächtnis verankert, dass viele unserer Vorfahren sich dafür entschieden haben, die meiste Zeit ihres Lebens an Land zu verbringen«, erklingt eine andere Stimme hinter ihnen. Galen und Romul drehen sich um. Hinter ihnen schwimmt Atta, eine Archivin aus dem Hause Poseidon.
Romul lächelt sie freundlich an. » Atta, willkommen.« Dann wendet er sich wieder Galen zu. » Ja, sie hat recht, junger Freund.«
» Aber was ist daran falsch? Zeit an Land zu verbringen?« Galen wünscht, er hätte die Frage anders gestellt. Es hört sich ein wenig an, als würde er das Gesetz infrage stellen. Das wäre Hochverrat.
» Unsere Körper sind nicht für ein Leben an Land bestimmt, mein Prinz«, sagt Atta und streicht mit ihrer kleinen Hand mit einer ehrfürchtigen Geste über die Mauer. » Die… Schwere… an Land zwingt unsere Körper, härter zu arbeiten als im Wasser. Sie lässt uns schneller altern.«
» Schwere?«, wiederholt Galen, der darüber nachgrübelt, was sie meinen könnte. Er dreht sich zu Romul um. » Meint sie die Schwerkraft?« Natürlich. Das ist der Grund, warum er am Ende eines Schultags so müde ist. Es kostet mehr Energie, seinen Körper an Land zu bewegen, als beinahe schwerelos durchs Wasser zu gleiten. Viel mehr Energie. Ein kleines Schnalzen seiner Flosse lässt ihn die dreifache Distanz zurücklegen, als wenn er mit der gleichen Anstrengung seine menschlichen Beine bewegt.
Romul nickt. » Genau, die Schwerkraft, sehr gut, Galen. Schon bald begann das Volk der Syrena zu schwinden, weil viele unserer Brüder es vorzogen, mit ihren menschlichen Gefährten an Land zu leben und einen menschlichen Tod zu sterben. Triton wusste, dass unsere Art verschwinden würde, wenn dies so weiterging.«
Sie lässt uns schneller altern. Galen erinnert sich daran, was Dr. Milligan über den Herzschlag gesagt hat. Je schneller das Herz schlägt, desto kürzer ist das Leben. Dr. Milligan hat diesmal festgestellt, dass Galens Herzfrequenz höher ist als bei seiner letzten Untersuchung vor nur wenigen Monaten. Weil ich so viel Zeit an Land verbringe.
Die Kehle schnürt sich ihm zu. » Diese Halbblüter. Wie sind sie so?«
Atta und Romul tauschen einen Blick. » Ich fürchte, wir verstehen die Frage nicht, mein Prinz«, antwortet Romul.
» Was ich meine, ist Folgendes: Sind sie in der Lage gewesen, Syrenagestalt anzunehmen? Hat jemals eines von Poseidons halb menschlichen Kindern seine Gabe geerbt?«
Romul zieht die Brauen zusammen. Atta faltet die Hände und sagt: » Nicht soweit wir uns erinnern, Hoheit. Wir sind uns darin einig, dass die Halbblüter niemals in der Lage waren, Syrenagestalt anzunehmen. Man geht davon aus, dass keines von ihnen Poseidons Gabe geerbt hat.«
» Man geht davon aus? Ihr seid euch nicht sicher?«, fragt Galen mit wachsender Enttäuschung.
» Mein Prinz«, entgegnet Romul, » es ist möglich, dass sie seine Gabe geerbt haben. Das Gesetz der Generäle, das die Verbindung der beiden Häuser fordert, wurde erst erlassen, nachdem Tartessos von Menschen belagert worden war. Wir können nicht mehr nachvollziehen, ob Poseidons halb menschliche Nachkommen die Gabe geerbt haben, da sie alle in den riesigen Wellen Tritons umgekommen sind.«
Emma kann den Atem für lange Zeit anhalten, aber nicht unbegrenzt. Je nachdem, wie lang Triton die Küste überflutet hat, ist es gut möglich, dass alle
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