Der Kuss des Meeres
hoch, aber ihre Augen lächeln beinahe. » Vielleicht nehme ich dich beim Wort, gefakte Verabredung hin oder her. Ich hasse Gruselfilme.«
» Warum hast du mir das nicht gesagt? In der Schule haben alle fast angefangen zu sabbern, wenn es um diesen Film ging.«
Die Dame neben Emma beugt sich vor. » Scht!«, flüstert sie demonstrativ laut.
Emma schmiegt sich in seine Armbeuge und vergräbt in regelmäßigen Abständen das Gesicht an seiner Brust, während der Film weiterläuft. Galen muss sich eingestehen, dass die Menschen das alles ziemlich real aussehen lassen können. Trotzdem kann er nicht verstehen, warum Emma Angst hat, wenn sie doch weiß, dass es nur Schauspieler auf einer Leinwand sind, die dafür bezahlt werden, dass sie schreien wie kochende Hummer. Aber er kann sich nicht beklagen. Wegen ihrer überzeugenden Darbietung kann er Emma fast zwei geschlagene Stunden im Arm halten.
Nach dem Film fährt er den Wagen an den Straßenrand und öffnet die Tür für sie, genau wie Rachel es ihm eingebläut hat. Emma nimmt seine Hand, als er ihr beim Einsteigen hilft.
» Wie sollten wir unser neues kleines Spiel nennen?«, fragt er auf dem Heimweg.
» Spiel?«
» Du weißt schon, ›nimm ein paar Zitronenköpfchen, Süßlippe‹.«
» Oh, richtig.« Sie lacht. » Wie wäre es mit… Kotzen?«
» Klingt passend. Dir ist doch wohl klar, dass du jetzt an der Reihe bist, oder? Ich habe daran gedacht, dich eine lebende Krabbe essen zu lassen.«
Sie beugt sich zu ihm hinüber. Er kommt fast von der Straße ab, als ihre Lippe sein Ohr streift. » Wo willst du denn eine lebende Krabbe herbekommen? Ich muss nur den Kopf ins Wasser strecken und ihr sagen, dass sie abhauen soll.«
Er grinst. Sie fühlt sich langsam wohler mit ihrer Gabe. Gestern hat sie ihm einige Delfine auf den Hals gehetzt. Am Tag davor hat sie jedes lebendige Wesen in der unmittelbaren Umgebung angewiesen, sich zurückzuziehen, als ein Fischerboot über ihnen vorbeiglitt.
Sie biegen in ihre Einfahrt ein und er schaltet den Motor aus. Es scheint, als würde jede Macht im Universum ihn auf sie zudrängen– wie ein Magnet. Oder vielleicht zieht jede Macht im Universum sie zu ihm. Genau wie Toraf es gesagt hat. So oder so, er ist es leid, dagegen anzukämpfen. Irgendetwas muss passieren. Und es muss bald passieren.
Er öffnet seine Tür, aber sie legt eine Hand auf seine und hält ihn zurück. » Du musst mich nicht bis zur Tür begleiten«, sagt sie. » Mom ist jetzt nicht zu Hause, also brauchen wir keine Show abzuziehen, okay? Danke für den Film. Wir sehen uns morgen.«
Und das war’s. Sie steigt aus, geht zur Haustür und schließt auf. Nach einigen Sekunden schaltet sie die Verandalichter aus. Galen setzt rückwärts aus der Einfahrt. Das Gefühl von Leere, das ihn überkommt, als er in die Hauptstraße einbiegt, hat nichts damit zu tun, dass er das Kotzspiel verloren hat.
Aus dem Augenwinkel sieht er, wie Emma die rosafarbene Geschenktüte auf der Kücheninsel betrachtet. Er weiß, es ist grausam, mit ihrer Neugier zu spielen, aber er kann einfach nicht anders. Sie ist immer noch bei Aufgabe zwei ihrer Hausaufgabe in Infinitesimalrechnung. Und das schon seit fast einer Stunde.
Sie runzelt die Stirn und lässt ihren Bleistift auf die Theke krachen. » Ich hasse es, samstags Hausaufgaben zu machen«, sagt sie. » Das ist alles deine Schuld. Du musst aufhören zu schwänzen. Dann würde ich mich nicht verpflichtet fühlen, ebenfalls produktiv zu sein, während du den ganzen Stoff nachholst.« Sie reißt ihm den Bleistift aus der Hand und schleudert ihn durch die Küche. Dabei verfehlt sie Rachel, die neben dem Kühlschrank steht, nur um Haaresbreite. Rachel wirft ihnen einen fragenden Blick zu, macht aber weiter sauber.
Galen grinst. » Wir könnten auch einfach chillen, wenn du magst.«
Emma sieht Rachel mit hochgezogenen Augenbrauen an. Rachel beteuert ihre Unschuld. » M-mh. Schau mich nicht so an. Ich hab ihm das nicht beigebracht.«
» Hab ich ganz allein gelernt«, sagt er und hebt den Bleistift vom Boden auf.
» Was du nicht sagst«, höhnt Emma.
» Ah, bitte hass mich nicht dafür, Liebes.«
» Okay. Bei ›Liebes‹ ist die Grenze erreicht. Und ›Kleines‹ geht auch gar nicht«, erwidert Emma.
Er lacht. » Das wäre das Nächste gewesen.«
» Zweifellos. Also, hat dir jemand erklärt, wie man chillt?«
Galen zuckt die Achseln. » Soweit ich das verstanden habe, ist Chillen so was wie im Koma liegen, nur wach.«
» Das
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