Der Kuss des Morgenlichts
dafür, dass der Kampf sogar auch in der Küche stattgefunden hatte. Der Kleiderständer war umgekippt, die Vorhänge heruntergerissen. Am schlimmsten waren die vielen blauen Flecken – Blutflecken, wie ich nun wusste. Von den schwarzen Kreaturen, die Nathan und Cara getötet hatten, war allerdings nichts zu sehen. Mit wackeligen Beinen ging ich weiter, kam schließlich zur Wohnzimmertür, die aus ihren Angeln gehoben worden war und schräg im Rahmen hing. Ich hielt den Atem an, als ich sie zur Seite stieß und ins Wohnzimmer blickte. Es war leer. Auch hier – weit und breit kein Toter, nur der riesige Baumstamm, der vorhin durch die Glastür gekracht war. Die Sonne war zurückgekehrt, ließ die blauen Blutflecken glänzen und die Scherben weißlich erscheinen. Stühle waren umgekippt, Bücher aus dem Regal gefallen und ihre Seiten herausgerissen, ein Teil des alten Kamins zertrümmert. Ich stieg vorsichtig über den Baumstamm hinweg und ging hinaus in den Garten. Die Erde in den Blumenbeeten war aufgewühlt, das Gras zertrampelt, Geräte aus der Pergola lagen verstreut herum. Klebrig, nahezu sumpfig fühlte es sich an, als ich über den Rasen lief.
»Aurora, Cara, Nathan!«
Meine Stimme wurde schriller. Panik stieg in mir auf. Was war geschehen, nachdem ich die Villa verlassen hatte? Dem Chaos nach zu schließen, war es nicht bei den ersten fünf Angreifern geblieben. Wie war der Kampf ausgegangen? Wo sollte ich nach Aurora, Nathan und Cara suchen?
Caras Haus. Dorthin könnten sie Aurora gebracht haben … kein wirklich sicherer Zufluchtsort, denn Caspar wusste, wo sie wohnte, aber doch eine Möglichkeit, kurz zu verschnaufen und neue Pläne zu schmieden …
Ob auch ich es bis zu Caras Haus schaffen würde, bezweifelte ich.
Noch bevor ich entschieden hatte, ob ich versuchen sollte, dorthin zu gelangen, sah ich plötzlich aus meinen Augenwinkeln einen Schatten. Ich fuhr herum und erkannte, dass jemand reglos am Gartentor stand. Wegen des grellen Gegenlichts konnte ich zunächst nur die Umrisse der Gestalt erkennen, nicht ihr Gesicht.
Caspar!, durchfuhr es mich eiskalt.
Er war mir nachgekommen … würde mich holen … oder nein … es war doch nicht Caspar, die Gestalt war kleiner … runder … es war eine Frau.
»Cara … «
Der Name erstarb auf meinen Lippen. Die Frau löste sich aus ihrer Starre und kam auf mich zu.
»Sophie, was ist denn hier passiert?«
So verwirrt hatte ich sie noch nie gesehen: Es war nicht Cara, sondern Nele.
»Was machst du hier?«
Meine Stimme klang heiser und gepresst. Nele schien mich gar nicht zu hören. Sie war auf mich zugelaufen, hatte sich kurz an meinen Arm geklammert und mir ins Gesicht gestarrt, sich dann von mir gelöst, war zur zerstörten Glastür gegangen und schaute jetzt ins Wohnzimmer. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie den Baumstamm sah.
»Sophie, was ist geschehen? Diese blauen Flecken … was ist das?«
Ich antwortete nicht, sondern blickte mich hektisch um und zog sie ins Wohnzimmer. Auch dort würden wir keinen Schutz vor Caspar und seinen Helfern finden, aber in der Villa fühlte ich mich ihnen nicht ganz so ausgeliefert. Gab es eine Möglichkeit, sich zu verstecken? War einer der Räume unversehrt geblieben? Mein Arbeitszimmer vielleicht. Womöglich auch Auroras Zimmer. Und es gab einen Keller – auch wenn ich erst ein einziges Mal darin gewesen war. Doch als ich weiterhin an Neles Arm zog, widersetzte sie sich mir.
»Was ist um Himmels willen hier geschehen?« Ihre Stimme war tonlos.
Ich wusste nicht, was ich ihr antworten sollte, und seufzte nur: »Ach Nele, warum bist du nur hierhergekommen!«
»Mir ist dein Anruf nicht aus dem Kopf gegangen! Ich habe die ganze Zeit gewartet, dass du dich endlich wieder meldest – aber das hast du nicht getan.«
In diesem Moment begriff ich nicht, was sie meinte; dann fiel mir unser Telefongespräch wieder ein, als ich sie nach Cara befragt hatte, die so unerwartet bei mir aufgetaucht war. Dieses Telefongespräch schien Jahre zurückzuliegen.
»Nele, ich kann es dir jetzt nicht erklären! Du musst dich irgendwo verstecken, und ich … ich muss nach Aurora suchen.«
»Aurora.« Ihre Lippen formten stumm ihren Namen. Wieder blickte sie sich mit schreckgeweiteten Augen im verwüsteten Wohnzimmer um, ehe sie voller Angst flüsterte: »Wo ist sie? Ist ihr etwas zugestoßen? Und du hast vorhin Nathans Namen gerufen! Ist er etwa wieder …?«
Ich nickte, schüttelte dann den Kopf, nickte wieder.
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