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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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könnte.
    Nein!, sagte ich mir. Das kann er nicht. Er weiß nicht, was ich denke. Er hat keine Macht über mich, sonst würde er die Menschen nicht um ihren freien Willen beneiden und nicht um mich werben.
    Er ließ mich entscheiden – und ich hatte entschieden.
    Noch ehe er den Druck seiner Hände verstärkte, noch ehe sein Gesicht noch dichter an meines herankam, beugte ich mich vor, überwand den letzten Abstand und küsste ihn. Ich ignorierte den Widerwillen, das Entsetzen, das Gefühl, den Tod zu küssen. Ich kämpfte gegen die Woge der Kälte, die mich erschaudern ließ, und versuchte mich an Auroras Anblick zu wärmen, den ich erneut vor meinem inneren Auge heraufbeschwor. Ich presste meine Lippen auf seine, umfasste seinen Nacken, fuhr ihm durch das glatte, dunkle Haar – und hielt mich an den Bildern aufrecht. Bilder meines Lebens … Bilder von glücklichen Stunden. Ich küsste nicht ihn, sondern Nathan, ich roch nicht ihn, sondern den Salzburger Sommer. Ich war nicht dem Weiß und Schwarz in diesem Zimmer ausgeliefert, sondern blickte in den morgenroten Himmel an Auroras Geburtsstunde.
    Endlich war es vorbei. Der Kuss hatte lange genug gedauert.
    »Ich bleibe bei dir«, versprach ich hastig, als ich mich von ihm löste. »Du hast recht. Es war ein Fehler, auf Nathan zu setzen. Ich will, ich werde es rückgängig machen. Aber ich bin so erschöpft. Ich brauche unbedingt eine Stärkung, ich muss etwas trinken, und ich möchte alleine sein, mir über alles klarwerden … nur kurz … wirklich … dann können wir gemeinsam überlegen, wie wir vorgehen … «
    Ich senkte meine Augen. Es blieb mir keine andere Wahl, als ihn zu belügen, aber ich konnte kaum ertragen, wie sein dunkler Blick kurz aufleuchtete. Ich ahnte, dass er nicht durch und durch ein Monster war, dass seine Liebe nicht erlogen, sondern aufrichtig war. Aber ebenso wusste ich: Er würde für diese Liebe oder das, was er dafür hielt, über Leichen gehen.
    Er widersprach mir nicht und stellte keine Fragen, erhob sich stattdessen schnell und verließ mit einem Lächeln den Raum. Seine Schritte, ansonsten steif, wirkten beschwingt und leicht.
    Eine Weile rührte ich mich nicht. Solange ich mich an ihn gepresst hatte, hatte ich die Kälte in meinem Herzen bezwingen können – jetzt fühlte ich mich wie in einem Eisberg gefangen. Als ich endlich aufstehen konnte, gelangen mir nur ein paar Schritte. Vor dem Klavier blieb ich stehen, streckte instinktiv meine Hände nach den Tasten aus, begann nach so vielen Jahren wieder zu spielen.
    Wenn er es hört, dachte ich, wird er zufrieden sein. Dann glaubt er gewiss, dass diese Töne meinen Entschluss zu bleiben besiegeln.
    Ich setzte mich auf den Hocker und spielte mit beiden Händen – irgendetwas, von dem ich nicht wusste, ob es harmonisch und wohlklingend war, ob es von einem Komponisten stammte oder improvisiert war. Während ich spielte, ließ ich meinen Blick suchend durch den Raum schweifen. Er blieb erst an der Tür, später an den bodentiefen Fenstern hängen. Mir war es vorhin unmöglich erschienen, es zu öffnen, doch nun sah ich an der linken Seite der Wand, wie zwei Glasplatten übereinandergeschoben waren. Vielleicht könnte man den hauchdünnen Spalt noch verbreitern, vielleicht könnte ich mich hindurchzwängen?
    Die Töne des Klaviers verhallten, während ich auf das Fenster zustürzte, an der Glasplatte zog und schob. Das Glas schnitt sich in meine Finger; auf meiner Stirn brach kalter Schweiß aus. Mit einem Ruck gab das Fenster endlich nach. Ich hielt den Atem an, drängte mich nach draußen, stand dann auf dem Fenstersims – zwei Meter über dem Boden. Ich sprang ohne zu zögern in die Tiefe, fiel beim Landen auf weiches Gras, blieb kurz zusammengerollt liegen und wartete, bis der Schmerz in meinen Glieder abebbte. Dann sprang ich auf und rannte los.
    Caspar würde mich verfolgen, sobald er meine Flucht bemerkte, aber vielleicht blieben mir einige Minuten, die mir einen Vorsprung verschafften. Vielleicht konnte ich mich zur Villa retten.
    Leere breitete sich in ihm aus, als er sie fortlaufen sah. Vertraute Leere. Verhasste Leere. Auch unverzichtbare.
    Sich tot-, blind- und kaltzustellen, hieß nicht nur auf die Fülle zu verzichten, sondern auch geschützt zu sein – vor Enttäuschung und vor Wahnsinn.
    Beide Klippen hatte er schon so oft umschiffen müssen. Enttäuschung, weil er ein Ziel nicht erreicht hatte, weil er seine Liebste verloren hatte, weil fast Erreichtes ihm

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