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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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plötzlich genommen worden war. Und noch schlimmer war der Wahnsinn – wenn er sich nicht mehr sicher war, ob das, was er unbedingt wollte, auch wirklich wert war, erkämpft zu werden. Wenn er weder wusste, wer er war, noch wer er sein sollte.
    Eben noch war es ihm so leicht erschienen, Sophie zu verführen, sie zu locken – mit Macht und Luxus, mit einem bequemen Leben, das nicht Idealen verschrieben war, sondern allein dem eigenen Wohlergehen diente. Nun blickte er sich im leeren Wohnzimmer um, und das, was er ihr als kostbar angepriesen hatte, schien kümmerlich und öde.
    Es hatte nicht gereicht, um sie bei ihm zu halten. Sie war geflohen.
    Seine Hände ballten sich zu Fäusten.
    Er hatte es sofort gemerkt, und er hätte sie mühelos aufhalten können, doch wie so oft hatte er sich beherrscht und entschieden zu warten. Warum sich eilen? Es blieb noch genügend Zeit, sie zu bestrafen – wenn er sich wieder unter Kontrolle und seine Trauer abgeschüttelt hatte, wenn er sämtliche Gefühle, warme Gefühle, lebendige Gefühle, für sie verdrängt hätte.
    Es würde ihm gelingen. Denn wie sollte auch irgendetwas Warmes, Lebendiges in dieser Leere und Einsamkeit, in dieser Kälte bestehen können?
    Er murmelte wieder und wieder ihren Namen.
    Sophie …
    Sophie!
    Sophie. Sie hatte sich für Nathan entschieden.
    Er dachte an die Nacht, damals vor vielen Jahren in Salzburg, als er vor ihrer Wohnung gestanden und ihr zugeraunt hatte: Er ist der Falsche.
    Übermächtig wurde das Verlangen, ihr genau diesen Satz nachzuschreien, während sie von seinem Heim fortlief, sie anzuflehen, ihren Entschluss noch einmal zu überdenken, ihn nicht zu scheuen. Doch als er seinen Mund öffnete, lagen ihm plötzlich ganz andere Worte auf der Zunge:
    Nein, nicht Nathan war der Falsche für sie. Sie war die Falsche für ihn – Caspar. Sie taugte nicht.
    Er hatte ihr seine ganze Welt zu Füßen gelegt – und sie hatte ihn zurückgewiesen, hatte sich, obwohl eine Auserwählte, als unglaublich dumm erwiesen.
    Seine Faust löste sich, ein Lächeln trat auf sein Gesicht. Vorhin hatte Sophies Kuss all seine Anspannung weichen lassen, hatte wohlige Glut durch seine verkrampften Glieder gejagt, sachte Schauder über seine sonst gefühllose Haut. Jetzt war es nicht länger sie, sondern eine Erinnerung, die all das bewirkte. Die Erinnerung an Serafina.
    Serafina war nicht so dumm wie sie gewesen – Serafina hatte danach gegiert, die Krone zu tragen, die er ihr angeboten hatte. Eigentlich war sie seiner Vorstellung von einer vollendeten Königin so viel näher gekommen als Sophie – üppig, wie sie gewesen war, das rote Haar so auffällig, die Stimme so melodisch, das Lachen so laut … nun gut, Letzteres hatte sie immer auch ein wenig derb erscheinen lassen, nicht so elegant und geschmeidig wie Sophie.
    Und dennoch: Serafina hatte ihn gewollt. Sie hatte ihm ein Kind geschenkt … einen Sohn mit schwarzen Haaren.
    Er seufzte, ahnte, dass sich in seinem Gesicht kurz all sein Schmerz widerspiegelte, die Niedergeschlagenheit, die Enttäuschung. Dann war nichts mehr – kein Gefühl, keine Erinnerung, kein Zaudern.
    Natürlich würde er sie töten.
    Sein Gesicht wurde wieder ausdruckslos.
    Ich kann auch ohne sie leben, dachte er. Es gibt immer noch … Aurora.

X.
    »Aurora, Cara, Nathan!«
    Immer wieder rief ich ihre Namen. Aus der Ferne schien die Villa unverändert. Ich sah keine Spuren des Kampfes, der hier getobt hatte, vielleicht noch tobte. Mir fiel nur gleich die sperrangelweit geöffnete Autotür auf. Jetzt hatte ich den Wagen erreicht, hielt inne, lauschte. Nachdem meine knirschenden Schritte verklungen waren und das Keuchen meines Atems sich gelegt hatte, herrschte Stille. In weiter Ferne hörte ich den Verkehr; der Wind rauschte durch die Baumkronen – aber da war kein Klirren von Schwertern mehr, kein Zischen und Geheul.
    »Aurora, Cara, Nathan!«, rief ich wieder ihre Namen, vorsichtig zuerst, dann, als sich nichts rührte, immer lauter. Ich wusste, ich hatte nicht viel Zeit – Caspar würde mein Verschwinden wahrscheinlich schon bemerkt haben, würde mich verfolgen.
    Ich hastete zur Haustür, die ich nur angelehnt vorfand. Ich öffnete sie, indem ich vorsichtig mit dem Fuß dagegenstieß. Obwohl ich dachte, auf den schrecklichen Anblick, der sich mir bieten würde, vorbereitet zu sein, schrie ich heiser auf, als ich das ganze Ausmaß der Zerstörung erblickte. Überall lagen Glassplitter, auch zerbrochenes Geschirr – ein Beweis

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