Der Kuss des Morgenlichts
durchgedreht war.
»Bitte!«, schrie ich, obwohl ich wusste, dass es vergebens war. »Bitte, wenigstens du musst mir glauben, Nele! Du musst sofort verschwinden! Du darfst nicht bleiben … es geht um dein Leben … du könntest … «
»Es hat also mit den Morden zu tun«, stellte der Beamte fest. »Sagen Sie uns, was Sie darüber wissen, Frau Richter.«
Ich schloss die Augen, versuchte wieder, mich auf meinen Atem zu konzentrieren, fieberhaft nachzudenken, was ich tun, was ich sagen könnte. Ein Geräusch ließ mich zusammenschrecken, wieder das Zischen, nein, ein schrilles Gelächter. Niemand schien es gehört zu haben, alle Blicke waren auf mich gerichtet. Aus wessen Mund war es gekommen? Aus Caspars? Ich war mir sicher: Wenn ich noch einmal in seine Hände geriet, würde er mich töten. Doch vielleicht war genau das meine Chance, die anderen zu schützen: Ich konnte von ihnen weglaufen.
»Ich kann … ich kann es nicht erklären«, stammelte ich.
Dann riss ich mich von Nele los, stürmte an den Beamten vorbei, erreichte die Haustür. Wenn ich es wenigstens bis zum Auto schaffte … solange es Zeugen gab, würde mich Caspar wohl nicht dort abfangen, würde vielmehr warten, bis ich nicht mehr in Sichtweite der Polizisten war.
Im Rennen fiel mir ein, dass ich keinen Autoschlüssel hatte. Vorhin, als Caspar mich entführt hatte, mussten sie mir aus der Hand gefallen sein. Vielleicht lagen sie noch dort … im Kies …
Ich hatte mich kaum gebückt, als ich unsanft gepackt und hochgezerrt wurde. Es waren zwei Beamte, die mich rechts und links festhielten, mich zurück zur Villa zogen, den Flur entlang bis zum Wohnzimmer. Es schien sie nicht zu beeindrucken, dass ich mich verbissen wehrte und mit den Beinen um mich trat.
»Ich will nicht … «
»Sie gehen nirgendwohin, Frau Richter.«
Irgendetwas schien in meinem Kopf zu platzen – der Knoten aus Anspannung, Ungewissheit und Todesangst. Mein Verstand setzte aus.
»Lassen Sie mich los!« War das meine Stimme? »Lassen Sie mich los, Sie dürfen mich nicht festhalten … oder glauben Sie, Sie könnten mich schützen? Oder sich selbst? Vor Caspar? Caspar von Kranichstein? Er ist kein normaler Mensch, er ist ein … «
»Sophie, um Gottes willen!«
Der feste Druck ihrer Hände hatte es nicht vermocht, aber Neles Stimme brachte mich zum Innehalten. Eine Weile starrte sie mich an, als hätte sie nicht nur um mich, sondern vor allem vor mir Angst.
»Ich hatte keine Ahnung, dass es so … schlimm um sie steht«, murmelte sie fassungslos.
Mir entging nicht, dass sie nicht länger mit mir, sondern über mich sprach.
Wieder trat ich mit meinen Füßen nach allen Seiten, traf das Schienbein eines Beamten, der schmerzlich sein Gesicht verzog, zerrte an meinen Armen. Doch die fremden Hände umklammerten mich wie Stahl, und im nächsten Augenblick lag ich rücklings auf dem Sofa. Ich wollte meinen Kopf heben, doch da beugte sich Nele über mich und streichelte über meine Stirn.
»Es wird alles gut, Sophie«, sprach sie beschwörend auf mich ein. »Alles wird gut.«
»Nichts wird gut!«, schrie ich. »Nele, ich bitte dich! Ich bin deine Freundin, du kennst mich, du kannst mir vertrauen, und du musst mir glauben. Ich weiß, es klingt verrückt, aber … «
Ich hörte Autoreifen auf dem Kies, dann das Quietschen des Gartentors, schließlich Schritte. Jemand kam näher, betrat die Villa. Ein Mensch? Ein Nephil?
Ich schloss kurz die Augen, und als ich sie wieder öffnete, war nicht länger Nele über mich gebeugt, sondern ein weißgekleideter Mann.
»Ich habe vorhin auch den Notarzt gerufen«, erklärte Nele beschwichtigend, und dann wendete sie sich an den Mann in Weiß: »Können Sie ihr nicht irgendetwas geben? Zur Beruhigung? Ich glaube, sie hat einen schweren Nervenzusammenbruch. Ich … ich mache mir schon seit langem Sorgen um sie.«
Der Sanitäter beugte sich noch tiefer über mich, ein zweiter trat an seine Seite. Jetzt wurde ich nicht länger von den Polizisten, sondern von den beiden Männern in Weiß festgehalten. Ich schrie zuerst Nele an, dann die Sanitäter, wusste, dass ich meine Lage nur verschlimmerte, wenn ich herumbrüllte und mich heftig wehrte, aber Ohnmacht, Furcht und das Unverständnis aller anderen ließen mich so lange toben, bis meine Kräfte versiegten.
»Lassen Sie mich!«, schrie ich. »Lassen Sie mich los!«
Plötzlich spürte ich ein Brennen in meiner Armbeuge; eine Nadel bohrte sich durch meine Haut, drang immer tiefer in mein
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