Der Kuss des Morgenlichts
»Doch ob einfach oder nicht – du bist eine Auserwählte, dich will ich, dich liebe ich. Ich möchte Kinder mit dir haben, um ihnen die Welt zu Füßen zu legen. Genauso wie dir.«
Er berührte mich nicht länger, ließ seine Hand sinken. Stattdessen neigte er sein Gesicht vor, hielt erst ganz knapp vor meinem inne. Diese Nähe war noch intensiver als seine sachte Berührung. Jede Faser meines Körpers reagierte auf ihn, fühlte sich abgestoßen und hingezogen, von ihm geködert, ja hypnotisiert und zugleich völlig überfordert. Es war zu viel von allem. Es war, als müsste ich Farben sehen, für die das menschliche Auge nicht gemacht ist, als würde ich etwas so stark riechen, dass meine Lunge bersten müsste, als würden sämtliche Töne der Welt auf mich einströmen, und mein Gehirn wäre zu klein, um sie zu verarbeiten. Es war, als bekäme ich eine Ahnung davon, wie überwältigend seine Talente, wie groß seine Macht, wie vielfältig seine Stärken waren – doch all das berauschte mich nicht, sondern fühlte sich an, als sei es zu groß, zu viel für mich. Ich konnte es kaum ertragen.
Jetzt streichelte er mir mit beiden Händen über meine Wangen, und mein strapazierter Geist gab es auf, die Empfindungen einzuordnen – zwischen gut und böse, wohlig und unangenehm, heiß und kalt. Welchen Anblick bot ich wohl in diesem Augenblick? Wirkte ich ängstlich, verwirrt, bestürzt, entsetzt? Oder hüllte mich seine machtvolle Aura so stark ein, dass aus mir ein anderer Mensch wurde und alles Unzulängliche, Klägliche verschwunden war?
Nele hatte oft gesagt, dass ich hübsch sei, aber ich hatte mich immer für unscheinbar gehalten. Doch nun – nun war ich vielleicht auf eine kalte, unnahbare Art und Weise schön, so schön wie nie zuvor. Nun käme kein Stammeln heraus, wenn ich spräche. Ich würde meisterhaft Klavier spielen, wenn ich es wollte, und ich würde schweben anstatt zu gehen. So hatte ich mich früher oft an Nathans Seite gefühlt – so leicht, als würde ich die Erde nur mit meinen Zehenspitzen berühren. Caspar trieb mich noch viel höher, ja, schleuderte mich in die Lüfte – wo sich mir unglaubliche Freiheit bot, ich zugleich aber der bedrohlichen Tiefe ausgeliefert war. Aus dieser Höhe zu fallen bedeutete nicht nur einen schmerzhaften Sturz, sondern den Tod …
»Ich kann dir so viel bieten, Sophie, dir und Aurora. Ich kann euch alles geben, ich kann euch glücklich machen.«
War das wirklich seine Stimme? Eine Stimme wie Musik? Eine Stimme, die so viel versprach – ein Leben ohne Angst, ohne Schüchternheit, ohne Sorgen, ohne Ohnmacht.
Kein einziges Mal hatte ich mit den Wimpern gezuckt, als ich ihn angestarrt hatte, doch nun verschwammen plötzlich seine dunklen Augen; seine Zügen wurden von einem anderen Gesicht überlagert. Ich hielt es zunächst für Nathans, doch dann wurde Auroras Antlitz daraus. Ihre blauen Augen starrten mich an, weit aufgerissen, wie zu jener abendlichen Stunde, als sie steif wie ein Brett vor mir gestanden und gestammelt hatte: »Er ist da.«
Sie hatte gezittert und gebebt, und einen noch schrecklicheren und beängstigenderen Anblick hatte sie geboten, als er sie zum ersten Mal berührt, ihr leicht über den Kopf gestrichen hatte, als ihre blauen Augen ins Weiße verrutscht waren, ihr Mund Schaum gespuckt, ihr Körper sich verkrampft und verbogen hatte.
Nein, das war keine glückliche Aurora. Eine glückliche Aurora gab es in Caras Gegenwart, zu der sie sofort Vertrauen gefasst hatte, oder auch bei Nathan, vor dem sie sich nicht einen Augenblick lang gefürchtet hatte.
Vielleicht konnte sie nie wie ein normales Kind sein; vielleicht war die Last, die auf ihren Schultern ruhte, tatsächlich unerträglich schwer, und das Leben, das vor ihr lag, wenn sie zur Wächterin wurde, viel häufiger von grausamer Pflicht bestimmt als von Freude.
Aber vor Cara und Nathan hatte sie nie Angst gehabt. Vor Caspar schon.
Das wusste ich, wusste es selbst dann noch, als ihr Gesicht vor meinen Augen wieder verschwamm, ich wieder in Caspars Maske starrte.
»Sophie … « Plötzlich klang seine Stimme nicht mehr wie Musik, sondern wieder blechern, in seinem Blick glänzte nicht Sehnsucht, sondern Grausamkeit; all die Faszination, die er auf mich ausübte, war verschwunden. Jetzt empfand ich Ekel.
Ich unterdrückte diesen Ekel mit aller Macht, versuchte auch das Gefühl loszuwerden, dass er in meinen Kopf sehen, jede Regung meiner Gedanken beobachten, ja lenken
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