Der Kuss des Morgenlichts
Fleisch, wieder ein Brennen, nein, eher ein Kribbeln, das sich in meinem ganzen Körper ausbreitete. Ich sah zuerst alles in Rot, so als steckte mein Kopf in einer blutigen Wolke, dann war alles nur noch verschwommen. Von ganz weither, als hockte ich am anderen Ende eines Tunnels, hörte ich Nele auf die Beamten einreden. »Sie können Sie jetzt nicht befragen. Sie sehen doch, in welchem Zustand sie ist! Sie ist dazu nicht in der Lage, lassen Sie sie in Ruhe … «
Inspektor Wenzel hielt ihr mit ärgerlicher Stimme etwas entgegen, mehrmals fiel Auroras Name.
»Nein, nein«, hörte ich Nele antworten, »Sie irren sich! Sie würde ihrem Kind nie etwas antun, das kann ich beschwören!«
Aurora etwas antun! Wie konnten sie nur so etwas denken! Ich wollte etwas sagen, mich verteidigen, aber meine Lippen waren steif. Ich brachte keine Silbe hervor. Es gelang mir nicht einmal, die Hand zu heben. Das Einzige, was bewies, dass noch Leben in meinem Körper steckte, war das Kribbeln. Es schien, als würden Tausende Ameisen über meine Haut wandern. Plötzlich schwankte das Sofa unter mir, nein, nicht das Sofa, sondern die Bahre, auf die man mich gezogen hatte. Ich konnte mich nicht dagegen wehren; nicht nur mein Körper erschlaffte, sondern auch mein Geist; ich schmeckte keine Furcht mehr, nur Sehnsucht nach Ruhe, nach Stille … nicht mehr kämpfen müssen, gegen wen … gegen was auch immer …
Ich sah, dass der Inspektor sich über mich beugte, weiterhin irgendetwas von einer Befragung murmelte, der ich sofort zu unterziehen sei. Nele drängte ihn zur Seite.
»Jetzt lassen Sie sie doch in Ruhe!«
»Es geht um Minuten!«, rief er und wusste gar nicht, wie recht er hatte! »Wir müssen ihr Kind finden! Sie ist die Einzige, die weiß, wo sie ist … «
Nein, dachte ich, ich weiß es eben nicht, aber vielleicht hatte das auch sein Gutes … wenn ich es nicht wusste, dann wusste es vielleicht Caspar auch nicht.
Nele strich über meine Stirn. »Es wird alles gut, Sophie, es wird alles gut.«
Das Schaukeln wurde stärker, als ich hinausgetragen wurde; die helle Decke des Flurs schien näher zu kommen, immer näher … Und dann war da wieder Neles Gesicht, die an meiner Seite geblieben war und sich über mich beugte. Nele, die alles tat, um mich zu schützen, die mich vor stundenlangen Verhören bewahren wollte. Sie hatte ja keine Ahnung.
»Sophie … «, stammelte sie.
Du hättest mir vertrauen sollen, du irrst dich, wollte ich sagen, aber ich brachte nichts hervor.
Die Wagentüren wurden hinter mir zugeschlagen. Das Letzte, was ich sah, war Neles besorgtes Gesicht. Sie hatte darum gebeten, mich im Krankenwagen begleiten zu dürfen, aber da sie nicht mit mir verwandt war, hatte man es ihr nicht erlaubt. Ich war erleichtert, denn solange sie nicht in meiner Nähe war, würde sie hoffentlich von einem Angriff verschont bleiben.
Der Krankenwagen fuhr langsam los; wieder knirschte der Kies. Jemand strich mir über das Gesicht.
»Wohin bringen Sie mich?«, fragte ich. Meine Zunge fühlte sich unförmig und steif an, aber wenigstens konnte ich wieder sprechen. Das lächelnde Gesicht eines Sanitäters beugte sich über mich. Beruhigend sagte er meinen Namen. »Wir kümmern uns um Sie.«
Ich überlegte fieberhaft, wie ich mich gegen seine Berührung wehren und verhindern konnte, dass man mich gegen meinen Willen ins Krankenhaus brachte. Doch ich war nicht einmal beweglich genug, um meinen Kopf zu heben. Mein Nacken fühlte sich so steif an wie meine Zunge.
Ach Nele … , seufzte ich innerlich.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, redete er auf mich ein.
»Lassen … Sie … mich … aussteigen … «, wisperte ich. Jede Silbe bereitete mir unglaubliche Mühe.
»Es ist alles in Ordnung.«
Am liebsten hätte ich ihm in sein lächelndes Gesicht geschlagen – auch wenn ihn keine Schuld an meiner Situation traf. Doch auch dazu fehlte mir die Kraft. Ich konnte nicht einmal die Hand zur Faust ballen, und nach meinem mühsamen Versuch zu sprechen schien meine Zunge regelrecht anzuschwellen, den ganzen Mund auszufüllen.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er wieder. »Es wird alles gut.«
Nichts … nichts wird gut!, wollte ich schreien, aber ich konnte nicht, konnte mich nicht mehr wehren – und sie auch nicht mehr warnen.
Plötzlich ging ein wilder Ruck durch den Wagen. Die Bremsen quietschten, das Fahrzeug schlingerte. Alles drehte sich so heftig, dass die Sanitäter – erst jetzt erkannte ich, dass es zwei waren – quer
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