Der Kuss des Morgenlichts
vor Furcht, Kälte und dem Beruhigungsmittel konnte ich mich nicht dagegen wehren. Ich erwartete, dass er mich wegschleifen würde, doch vorerst hatte er anderes im Sinn. Ich sah seine Faust nicht kommen, fühlte sie ganz plötzlich voller Wucht in meinem Gesicht. Ich hatte das Gefühl, mein Kopf würde bersten und die Haut zerplatzen, doch als sich mein Blick wieder klärte, fühlte ich, dass der Schmerz so viel Adrenalin durch meinen Körper gepumpt hatte, dass die Eisesstarre von mir abgefallen war.
»Du Verräterin!«, zischte Caspar.
Es schmeckte metallisch in meinem Mund; warmes Blut perlte über meine Lippen und mein Kinn. »Du kannst mich schlagen, so viel du willst«, hauchte ich, »aber ich werde Nathan immer lieben. Und Aurora wird immer sein Kind bleiben.«
»Ich hätte dich zur Königin meines Reichs gemacht!«
»Königin! Von wegen!« Mit jedem Wort wurde meine Zunge beweglicher. »Du bist kein König. Du bist ein Mörder.«
Ein schriller Laut entwich ihm, und ich wappnete mich gegen den nächsten Schlag. Doch anstatt erneut mit seiner Faust auf mich einzuschlagen, hob er mich hoch und warf mich über seinen Rücken wie einen Sack. Mein Bauch zog sich schmerzhaft zusammen, als seine Schultern sich in mein Fleisch pressten. Ich rang nach Atem.
Er sprang aus dem Wagen und begann zu rennen. Ich schloss die Augen. Immer wenn ich sie kurz öffnete, sah ich Waldboden, Blätter, Steine, Moos, Äste, Wurzeln. Es ging den Berg hinauf, hoch, immer höher und immer schneller. Nach einer Weile standen die Bäume nicht mehr ganz so dicht, der saftig grün-braune Boden wurde karger. Ich vernahm kein Keuchen, kein Stöhnen von ihm, nur mein eigenes angestrengtes Atmen. Dann hatten wir den Wald hinter uns gelassen und eine Wiese erreicht. Duftende Blüten kitzelten mein Gesicht, als Caspar das raschelnde, hohe Gras durchpflügte, Bienen summten, einzelne Halme verfingen sich in meinen Fingern. Irgendwann wurden sie kürzer, dünner, gelblicher. Stachelige Hecken und nur noch vereinzelte, gekrümmte Nadelbäume säumten unseren Weg. Steine durchbrachen den Boden, wurden schließlich zu einem Geröllfeld. Ich versuchte den Kopf zu heben, einen Blick ins Tal zu erhaschen, um zu erahnen, welche Höhe wir erreicht hatten, doch es gelang mir nicht.
Endlich blieb Caspar stehen, und unter mir sah ich nichts Lebendiges mehr, nur noch grauen, kalten, nackten Stein. Er warf mich auf den harten Boden. Die Fläche, auf der ich zu liegen kam, bot kaum Platz für zwei Menschen – und rundherum lauerte die Tiefe.
Von dem kleinen Felsvorsprung aus konnte man den ganzen See überblicken, so schwarz, als würde er nicht aus Wasser bestehen, sondern aus klebrigem Pech.
Er hob den Blick. Keine grauen Wolken beschmutzten die schneebedeckten Berggipfel, die sich vor ihm aufreihten, alt, mächtig und so erhaben über das Menschenpack, das sich zu ihren Füßen tummelte.
Beides war ehrlich: das Weiß des Schnees, das Schwarz des Wassers. Beides zog scharfe Grenzen, besaß absolute Reinheit, vermischte sich nicht. Hell und Dunkel. Gut und Böse. Nichts dazwischen. Nichts Verspieltes – nicht wie die satten grünen Wälder zwischen Berg und See, die an manchen lichteren Stellen schon von der Juli-Sonne verdörrt worden waren, nicht wie die blumenübersäten Wiesen und Almen oder die türkis schimmernden Bäche und Tümpel.
All das war das Kleid einer verlogenen Welt, die vorgaukelte, das Leben wäre üppig und bunt, duftend und prächtig, einer Welt, die lächelnd dazu verführte, Schönheit, Freude, Glück anzustreben, allesamt zwar schillernde, aber leere Hülsen. Die Wahrheit, die sich in ihnen versteckte, war schlicht und nüchtern: Die Existenz auf dieser Welt war Kampf, nichts weiter. Das Menschenpack mochte den Glanz der Welt begaffen wie Kinder die Seifenblasen, die nichts von ihrem jähen Zerplatzen ahnen – doch er würde sich nicht mehr täuschen lassen. Er würde sich nicht länger etwas einreden, was es nicht gab, sich nie wieder nach Nuancen und Facetten sehnen.
Er sah, wie Sophie ihr Gesicht schmerzlich verzog, nachdem er sie auf den Stein hatte fallen lassen, aber sie biss sich auf die Lippen und unterdrückte jeden Laut. Das zumindest musste er anerkennen: Dass sie Haltung bewies. Da waren kein Zittern, kein Flehen, keine Feigheit. Nur kalte Entschlossenheit. Solange sie ihre Tochter in Sicherheit wusste, würde sie die Fassung wahren, und ja, er bewunderte das. Zu oft hatte er in entsetzte, von Todesangst
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