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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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entstellte Gesichter gestarrt, hatte beobachtet, wie aus vermeintlich stolzen Seelen wimmerndes Gewürm wurde, dessen Trachten nach Geld, nach Liebe, nach Ansehen auf das Zucken des Überlebenstriebes schrumpfte. Der Tod war ein Spiegel, und seine Ränder schnitten scharf. Er stellte schonungslos bloß, wer der Mensch war – viel deutlicher als das Leben.
    Sophie versuchte aufzustehen, doch er packte sie am Nacken, schleifte sie ein paar Schritte nach vorne, blieb erst am äußersten Rand des schroffen Felsvorsprungs stehen. Ein Stoß, und sie würde in die Tiefe fallen.
    »Tu es doch!«, murmelte sie.
    Er ließ sie los, trat zurück.
    »Willst du mich nicht töten?«, fragte sie und hob den Blick. »Worauf wartest du?«
    »Auf Cara und Nathan.«

XI .
    Caspar trat zurück und ließ mich auf dem Felsvorsprung liegen. Ich blickte zum Himmel. Auch wenn er mich nicht gleich nach unten gestoßen hatte, wie ich es erwartet hatte, so würde eine falsche Bewegung genügen, und ich würde fallen, immer tiefer fallen, schließlich auf dem Boden aufprallen, einem steinigen, mit stacheligem Gebüsch übersäten Boden, würde mir alle Knochen brechen, würde über Geröll, Äste und Nadeln rutschen, am Ende völlig zerkratzt und blutüberströmt liegen bleiben. Reglos. Tot.
    Ich hatte es genau vor Augen, doch ich hatte keine Angst. Vielleicht war es bedingt durch die Nebenwirkungen des Beruhigungsmittels, dass ich jetzt die Idee hatte, ich könnte vielleicht gar nicht fallen, sondern ich könnte einfach die Flügel ausbreiten und davonfliegen, von aller Gefahr, allen Ängsten befreit.
    Während ich lag, stieg die Sonne höher, verschwand hinter Wolken, kam wieder hervor. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren, merkte jedoch, wie die Wirkung der Spritze langsam nachließ. Dort, wo Caspars Hände mich vorhin gepackt und gequetscht hatten, setzten Schmerzen ein. Ich hob den Kopf, und jetzt gelang es mir. Ich setzte mich auf, und keine unsichtbare Macht hielt mich mehr zurück.
    Der Felsen, auf dem ich saß, fühlte sich glatt und kalt an. Nicht einmal eine Ritze gab es, um sich irgendwie daran festzuklammern. Ich mied den Blick in die Tiefe und sah mich stattdessen nach Caspar um. Er stand nicht weit von mir entfernt – einer schmalen, dunklen Säule gleich. Er achtete nicht auf mich, sondern schien in Gedanken versunken. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, wirkte leer. Wie hatte dieser Mann … nein, er war kein Mann, er war ein Schlangensohn … wie hatte er jemals irgendetwas anderes in mir auslösen können als tiefes Unbehagen und Abscheu?
    »Nathan und Cara werden nicht kommen«, sagte ich leise.
    Er reagierte nicht. Ich dachte schon, er hätte mich nicht gehört. Aber dann murmelte er: »Doch. Doch sie werden kommen.« Er machte eine kurze Pause. »Sie werden kommen, weil du Nathan um Hilfe bitten wirst«, setzte er grimmig hinzu.
    Ich schüttelte energisch den Kopf. Der stechende Schmerz in meinem Kopf ließ mich weiße Funken sehen. »Das werde ich nicht tun.«
    Langsam machte er einen Schritt auf den Felsvorsprung zu, kam jedoch nicht näher.
    »Du hast mich verraten, Sophie«, stellte er fest, »aber ich gebe dir eine Chance. Ich lasse dich am Leben – wenn du Nathan anrufst und ihn hierherlockst.«
    Seine Stimme hatte nichts Werbendes mehr, sondern war kalt und nüchtern, als gelte es, ein Geschäft abzuschließen.
    »Mein Leben für das von Nathan«, sagte ich langsam. »Sieht so deine Rechnung aus?«
    »Ja«, sagte er schlicht.
    Ich schüttelte wieder den Kopf, diesmal etwas langsamer und vorsichtiger. »Nathans Tod wäre dir nicht genug. Du willst … Aurora. Und ich würde dafür sterben, dass es meiner Tochter gut geht.«
    Jetzt setzte er einen Fuß auf den Felsvorsprung. Ich spürte ein Kribbeln in meinem Magen, so als würde ich im obersten Stock eines Hochhauses stehen und hinunterstarren. Noch drei Schritte … , dachte ich, … noch drei Schritte, ein Stoß, und ich falle …
    Er kam nicht näher. »Bei mir wird es ihr gut gehen.«
    »Nein«, sagte ich, »nein, davon wirst du mich nie überzeugen. Und du kannst mich nicht dazu zwingen, Nathan hierherzulocken. Er wird es so sehen wie ich. Auroras Wohl geht vor … vor mein Leben.«
    »Dann muss ich wohl zu einem anderen Mittel greifen.«
    Er machte einen weiteren Schritt auf mich zu, und obwohl ich es mit aller Macht zu unterdrücken versuchte, verstärkte sich das Kribbeln in meinem Magen, ließ meinen ganzen Körper zittern. Womöglich würde er mich

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