Der Kuss des Morgenlichts
nicht einfach mit einem Tritt hinunterstoßen, sondern er würde mich packen, mich hochzerren, und nein … er würde mich nicht werfen – noch nicht. Es wäre ein schneller, viel zu schneller Tod, der ihm nicht helfen würde, sein Ziel zu erreichen. Angst machen würde er mir stattdessen, mich immer wieder ganz nahe an den Abgrund heranführen, mich darüberhalten, dann wieder zurückzerren. Vielleicht würde er mich auch noch einmal schlagen, mir Schmerzen zufügen. Die Angst in mir wuchs ins Unermessliche. Ich war mir nicht sicher, ob ich das würde ertragen können, ob ich würde stark bleiben können. Ich versteifte mich, versuchte mich leer zu machen, an nichts zu denken – nur an Aurora. Doch als ich mir ihr Gesicht vorzustellen versuchte, sah ich stattdessen Nathan vor mir, wie er mich ebenso sorgen- wie liebevoll anblickte; inmitten der Angst überkam mich ein wohliges Gefühl.
Pass auf sie auf, beschwor ich ihn innerlich, pass gut auf mein Mädchen auf!
Ich schloss die Augen, konzentrierte mich auf diese Worte, versteifte mich noch mehr. Nichts geschah. Als ich die Augen wieder öffnete, stand Caspar mit erhobenen Armen vor mir, jedoch nicht, um mich zu packen, mir zu drohen oder mir wehzutun.
Jetzt vernahm ich das Röcheln, Keuchen und Zischen – nicht aus seinem Mund, sondern aus den Mäulern der schwarzen Gestalten, die den Berg heraufgerast kamen.
Ich schrie entsetzt auf. Sie kamen nicht allein … sie trugen eine Frau mit sich. Wehrlos baumelte sie über der Schulter einer der Kreaturen.
Nele … sie hatten Nele in ihrer Gewalt!
Unsanft wurde sie vor Caspar zu Boden geworfen.
»Nele … «
Erst als ich ihren Namen aussprach, wieder und wieder, ging ein Ruck durch ihre Gestalt. Sie krümmte sich, schien sich ganz klein machen zu wollen, öffnete dann aber doch ängstlich die Augen. Ihr Blick fiel auf mich, weitete sich, wurde starr vor Schreck. Sie sah mich an und zugleich durch mich hindurch. Als ich sie eingehender musterte, erkannte ich, dass sie sich anfangs heftig gewehrt haben musste: die vielen blutigen Kratzspuren in ihrem Gesicht zeugten davon, auch die Wunden an ihren Händen, mit denen sie wohl wild um sich geschlagen hatte. Ihre Haare waren zerzaust.
»Nele … «, stammelte ich wieder.
Hatten sie sie gleich aus der Villa gezerrt, oder hatten sie sie später abgefangen?
»Bitte … «, ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, zu betteln, aber ich konnte nicht anders, »bitte … lass sie aus dem Spiel!«
Caspar beugte sich zu mir, und ich konnte die Kälte wie ein dickes Tuch spüren, das mich einhüllte.
»Du lässt mir keine andere Wahl.« So leise sprach er, ganz ohne Zischeln, dass es beinahe samtig klang, freundlich.
Er richtete sich auf, beachtete mich nicht länger und beugte sich ohne jede Hast über Nele. Für einen Augenblick dachte ich daran, vom Felsvorsprung wegzurobben, aber ich wusste sofort, dass er schon bei meiner ersten abrupten Bewegung nach mir greifen würde.
Caspars Schatten fiel auf Nele. Er hob seine Hände zu einer einladenden Geste, so als würde er sie wie einen lang erwarteten Gast in seinem edlen Heim begrüßen.
»Siehst du deine Freundin?«, fragte er sie freundlich. »Und siehst du, wie tief sie fallen würde … wenn sie denn fiele?«
Neles Blick blieb starr und ausdruckslos, doch ihre Lippen begannen zu zittern, ich sah, wie sie etwas stammelte, hörte es aber nicht.
Caspar reichte ihr ein Handy – ich erkannte, dass es meines war, mittlerweile wohl aufgeladen. »Du musst nicht viel tun, um sie vor einem schrecklichen Tod zu bewahren. Du musst nur die Nummer von Cara Sibelius wählen, dir von ihr Nathanael Grigori geben lassen … und ihm beschreiben, was du siehst.« Sein Lächeln wurde breiter, es war kein höhnisches Lächeln, sondern das eines höflichen, werbenden Geschäftsmannes.
Nicht nur Neles Lippen zitterten, auch ihre Hände. Das Handy entglitt ihr, sobald sie es entgegengenommen hatte, doch sie hob es rasch auf.
»Tu es nicht, Nele, ich bitte dich, tu es nicht!«, schrie ich.
Ich versuchte ihren Blick auf mich zu ziehen, rief wieder und wieder ihren Namen, und bemerkte darum erst, dass Caspar wieder auf mich zugesprungen war, als er mich bereits packte, mich hochzog und drohend die Hand hob. So lange hatte ich versucht dagegenzuhalten – jetzt konnte ich meine panische Angst nicht mehr beherrschen.
Jemand schrie laut und durchdringend. So laut, dass meine Ohren zu zerplatzen schienen.
Nele …
Aber es war nicht ihre
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