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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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Gesicht.
    Cara versuchte zu lächeln und die Hand zu heben. Schlaff fiel sie wieder zu Boden.
    »Keine Angst«, murmelte sie kraftlos, »bald geht es mir wieder besser. Wir sind hier in Sicherheit.«
    Ich war Aurora gefolgt und kniete mich neben sie. »Was soll ich denn nur tun, um dir zu helfen?«
    »Es heilt von selbst … ich brauche nur Zeit … Zeit, um auszuruhen … «
    Sie schloss die Augen, schien nicht zu bemerken, dass Josephine nun auch den letzten Fensterladen geschlossen hatte. Der Raum – erst jetzt fiel mir auf, dass er bis auf ein altes, abgewetztes Sofa leer stand – war nun dunkel, kläglich dünn nur die Lichtstreifen zwischen den Balken. Ohne die stechende Sonne war es merklich kühler geworden; der Schweiß, der mir eben noch auf meiner Stirn gestanden hatte, trocknete auf meiner Haut.
    Ich hob den Kopf. »Wo … wo kann ich mich waschen? Ich bin voller … «
    Ich sprach nicht weiter. Josephine stand nicht weit von mir entfernt, ihr Körper ganz steif, die Hände vor der Brust gekreuzt. Irgendetwas an ihrer Haltung irritierte mich. Sie schien plötzlich so viel größer zu sein, der Buckel, der für gewöhnlich ihren Rücken krümmte, war verschwunden. Und ihre Haut, ihre doch so faltige, gefurchte Haut – warum wirkte sie mit einmal so straff? Die Haare hatten sich aus dem üblichen Haarknoten gelöst und fielen offen über ihre Schultern. Am befremdendsten aber war ihr Blick. So warm, gutmütig und anteilnehmend er sonst immer auf mir geruht hatte, jetzt wirkten ihre Augen so dunkel … so schwarz … abgründig schwarz.
    Ich hörte einen Schrei, doch er stammte nicht aus meiner Kehle, sondern aus Auroras. Auch Cara stöhnte. Ich sah, dass sie versuchte, sich aufzurichten, aber sie konnte es nicht.
    »Gib dir keine Mühe«, sagte Josephine. Es war nicht ihre Stimme, nicht die Stimme der alten, freundlichen Frau, die mit mir geplaudert und mir Äpfel geschenkt hatte. Sie klang vielmehr zischend wie eine Schlange. »Gib dir keine Mühe!«, höhnte sie wieder. »Auf körperliche Stärke habe ich nie gesetzt – aber in deinem elenden Zustand kann sogar ich dich mühelos besiegen … «
    »Du … «, brachte Cara hervor.
    »Ja«, lachte Josephine schrill. »Das ist meine größte Stärke! Dass mich niemand erkennt. Nur Caspar weiß, wer ich bin! Und ich werde Caspar im Kampf gegen Nathan helfen.«
    Sie löste sich aus der starren Haltung, nahm die Hände von der Brust und hob sie bedrohlich, als sie näher trat und uns mit ihren schwarzen Augen fixierte.
    »Sobald ich euch beide getötet habe, werde ich Aurora zu ihm bringen.«

XII .
    Vieles hatte ich in den letzten Tagen so schlecht begreifen können. Verwirrt und fassungslos hatte ich immer wieder vor mich hin gestarrt, mit dem Kopf geschüttelt oder einfach nur reglos dagesessen, hatte nicht wahrhaben wollen, was ich sah und hörte.
    Doch jetzt war ich nicht einfach nur tief erschüttert – ich fühlte mich betrogen. Nicht nur von ihr, Josephine, der vermeintlich herzlichen und liebenswerten alten Dame, sondern auch von Cara, Nathan und Caspar, die mir so viel über die Nephilim erzählt, aber etwas Entscheidendes offenbar unerwähnt gelassen hatten. Nämlich, dass nicht alle dieser Rasse auf den ersten Blick schöner, stärker, schneller, klüger und gewandter waren als die Menschen. Ich schüttelte den Kopf. Das war zu viel, einfach zu viel!
    Unvorstellbar, dass Josephine zu den Nephilim gehörte! Und noch unvorstellbarer, dass sie zugleich so alt und schwächlich wirkte! Oder nein – schwächlich war sie nicht mehr, als sie nun nach einem Schwert griff, das unter dem Sofa verborgen gewesen war, und es furchterregend in der Luft schwang.
    Ich starrte sie mit offenem Mund an, und vielleicht war es genau das, was uns rettete: dass ich nur Empörung, Verwirrung, Unverständnis zeigte – aber keine Angst. Denn das schien Josephines Stolz zu verletzen.
    Als ich mich nicht zitternd davor duckte, ließ sie ihr Schwert sinken.
    »Das hättet ihr nicht gedacht?«, zischte sie, und ihr Grinsen wurde immer breiter und immer irrer. »Aber ja … auch ich gehöre zu den Nephilim.«
    In ihren Augen leuchtete es auf; wahrscheinlich gab sie sich nicht zum ersten Mal dem Triumph hin, den sie empfinden musste, wenn sie ihre wahre Natur enttarnte.
    Sie drängte sich an mir vorbei und baute sich vor Cara auf.
    »Dass Sophie mich nicht erkannt hat, war selbstverständlich«, rief sie nahezu jubelnd. »Wie sollte eine dumme Menschenfrau wie sie auch die

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