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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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Wahrheit erahnen? Vor Aurora hatte ich etwas mehr Angst, aber ein Kind, das erst am Anfang steht, kann man noch gut täuschen.« Sichtlich selbstgefällig schmatzte sie mit ihren Lippen. »Aber dass ich dich«, sie beugte sich tief über Cara, »dass ich dich überlistet habe, ist wahrhaft eine Meisterleistung!« Sie warf ihren Kopf in den Nacken und lachte schrill. Ihre dünnen Haare wehten im Lufthauch wie Spinnweben.
    Ihr Anblick widerte mich noch mehr an als der von Caspar oder seinen schwarzen Kreaturen. Josephine umgab keine dunkle, böse und grausame Aura – mit dem mächtigen Schwert in der Hand wirkte die alte Frau vielmehr lächerlich grotesk. Die schnellen Regungen und die enorme Kraft passten nicht zu ihrem alten Körper.
    »Ich hätte nie gedacht, dass du eine Unauffällige bist … «, stöhnte Cara.
    »Die größte Schwäche der Nephilim«, begann Josephine belehrend, »ist ihre Eitelkeit. Sie sehen einen schönen, klugen, begabten Menschen – und prompt wollen sie seine Eigenschaften und Fähigkeiten für sich selbst haben.« Sie schüttelte verächtlich den Kopf, als wäre ihr diese Eitelkeit völlig fremd, obwohl ihr selbstgefälliges Lächeln das Gegenteil bewies.
    »So bin ich nie durch die Welt gegangen«, fuhr sie fort. »Immer schöner, stärker und klüger zu werden, bedeutet im Grunde auch, immer auffälliger zu werden, sich selbst zur lebenden Zielscheibe zu machen. Man zieht das Interesse der Wächter auf sich wie ein Magnet. Doch mich haben sie fast nie behelligt. Es stimmt! Ich bin eine Unauffällige. Ich habe Kräfte und Talente gesammelt, aber am liebsten habe ich Menschen getötet, die nicht mehr oder noch nie ernst genommen wurden, die Alten, die Einfältigen, die Durchschnittlichen. Ich wollte nicht den Abschaum, aber eben auch nicht die Besten. Ich wollte das Mittelmaß. Ich wollte die, die in keiner Sache besonders gut oder besonders schlecht waren – und hatte so die reichste Auswahl. Jemand wie du, Cara, fällt auf – ich nicht. Ich lebte unbehelligt mit den Menschen, lernte sie nicht nur in- und auswendig kennen, sondern auch, mich wie sie zu verhalten, und das in einer Perfektion, an die keiner von euch heranreicht.«
    Cara wollte etwas sagen, aber brachte nichts hervor.
    »Wenn es dir darum geht, ein unauffälliges, normales Leben zu führen«, fragte ich heiser an ihrer Stelle: »Warum bist du dann ein Bündnis mit Caspar eingegangen? Ihm ist längst egal, was die Welt von ihm denkt. Er hat mittlerweile alle Grenzen überschritten, die er früher noch eingehalten hat.«
    Josephine drehte sich mir zu und musterte mich abfällig von oben bis unten. Sie zögerte ihre Antwort hinaus, als wäre es eine besondere Gefälligkeit, einer dummen Menschenfrau Rede und Antwort zu stehen. Schließlich ließ sie sich doch dazu herab. »Ich will doch nicht unauffällig sein, um ein ebensolches Leben zu führen! Es ist vielmehr meine Waffe, und es ist eine der besten Waffen überhaupt. Auch ich habe meine Kämpfe ausgefochten. Ich habe viele der Wächter getötet, und es hat mir Spaß gemacht. Am allermeisten liebte ich es, in ihre dummen Gesichter zu schauen, wenn ich sie in die Falle gelockt hatte. So wie euch.«
    Ihre Mundwinkel zuckten, das Gesicht wurde von einem ebenso verrückten wie grausamen Lächeln verzerrt.
    »Welche Narren ihr Wächter doch seid!«, wandte sie sich wieder an Cara. »Warum habt ihr euch nur zum Ziel gesetzt, die Menschen zu schützen. Pah! Ich habe so lange unter ihnen gelebt, ich weiß so viel über dieses Pack, viel mehr als ihr, weiß von den banalsten Nichtigkeiten, um die sie kopflos kreisen, und ich werde nie, nie begreifen, warum ihr uns ihretwegen das Leben schwer macht. Genauso wenig wie Caspar es begreifen kann.«
    Cara gelang es, ihren Kopf so weit zu heben, dass sie sich auf ihre Ellbogen aufstützen konnte, doch prompt schlug Josephine ihr die Arme unter dem Oberkörper weg, setzte ihren Fuß auf ihre weiße Stirn und drückte ihren Kopf zu Boden.
    »Genug geredet«, rief sie, und das Lächeln schwand. »Caspar hat mir sehr deutlich gemacht, was er von mir erwartet. Wer auch immer versucht, das Kind von ihm fernzuhalten – den werde ich töten. Und ich werde Aurora zu ihm bringen.«
    Sie trat zurück, stand nun breitbeinig über Cara und hob das Schwert. Ich wusste, dass es sinnlos war, dazwischenzugehen, aber ich konnte nicht anders. Ehe sie zum Schlag ausholte – wahrscheinlich, um Cara zu enthaupten –, stürzte ich mich auf sie. Mein Blick

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