Der Kuss des Morgenlichts
Flüchtig trafen sich unsere Zungenspitzen, salzig, kitzelnd, brennend. Es war ein ungewohntes Gefühl, fast zu stark, um ihm standzuhalten, und ich zuckte zurück. Doch nicht lange hielt ich es aus, ihn nicht zu spüren und zu schmecken, nicht diese Nähe und Vertrautheit zu genießen. Beim zweiten Mal presste ich umso heftiger meinen Mund auf seinen, leidenschaftlich und sehnsüchtig. Als unsere Lippen und Zungen nun aufeinandertrafen, war es nicht mehr befremdend. Zu verschmelzen schienen sie, genau so wie unsere dicht aneinandergepressten Körper.
Als wir uns endlich wieder voneinander lösten, standen wir nicht mehr im Dunkeln. Graues Licht stahl sich in der Ferne unter das dunkle Tuch der Nacht und lüftete es. Aus einem schmalen Streifen wuchs ein rötliches Glühen, ließ die Dächer der Stadt, die Kirchtürme und die Hohensalzburg matt erleuchten. Noch zögerte der neue Tag, in der kühlen Morgenluft fröstelnd, sein Nachtgewand abzustreifen; noch ballten sich hoch am Himmel dunkelviolette Wolken. Doch dann wurden sie kraftvoll aufgerissen wie ein störender Vorhang, und hinter ihnen erstrahlte das gleißende Rund der Morgensonne.
II .
Nele sagte später, dass ich in diesen Wochen wie eine Schlafwandlerin durchs Leben gegangen sei. Ich hätte nie richtig zugehört, sie kaum wahrgenommen, das Einzige, was mich habe berühren können, seien Nathan und die Musik gewesen, wobei sich das eine von dem anderen nicht trennen ließ. Nathan war Musik, vollkommene, überirdische, begeisternde, leidenschaftliche, träumerische, sehnsuchtsvolle, göttliche Musik. Die Zeit, in der ich nicht mit ihm zusammen sein konnte, war unerträglich. Wie eine große Leere tat sie sich in meinem Leben auf, die ich irgendwie überbrücken musste.
Dass Nele damals eine Affäre mit einem Biologiestudenten aus Amsterdam hatte, bemerkte ich gar nicht. Auch die bevorstehende Bakkalaureatsprüfung bereitete mir keine Angst mehr.
In einem wacheren und aufmerksameren Zustand hätte ich sie viel früher wahrgenommen: jene mysteriösen Zeichen, die ich erst später, sehr viel später zu deuten wusste. Damals übersah ich vieles, was mich hätte warnen und auf das, was kommen würde, hätte vorbereiten können. Aber es gab einen Abend, an dem selbst ich etwas bemerken musste.
Als ich nach Hause kam, war ich noch wie berauscht. Zuerst hatten Nathan und ich gemeinsam gespielt, dann waren wir auf dem Kapuzinerberg spazieren gegangen. Ich weiß noch, dass ich seine Kondition bewunderte, weil ich selbst nach dem steilen Aufstieg kaum mehr Luft zum Reden hatte, während er ruhig und versonnen über das abendliche Salzburg blickte. Die Luft war klar und lau; Fliegen umsurrten uns – das heißt, vor allem mich, weil ich verschwitzt war, Nathan hingegen nicht. Wir sprachen nicht viel, aber er legte vorsichtig seinen Arm um mich. Insgeheim hoffte ich, dass er mich küssen würde, wie damals im Morgenlicht, doch obwohl er es nicht tat, hatte ich nicht das Gefühl, dass etwas fehlte, dass dieser Moment nicht vollkommen glücklich, erfüllend und innig war. Ihn zu küssen war erregend gewesen, dicht an ihn gepresst zu stehen ein etwas weniger aufwühlender, aber eben darum auch entspannterer Genuss.
»Nele, bist du da?«, rief ich in die Wohnung. Ich war mir sicher, dass sie zu Hause war; ich glaubte es zu spüren. Doch sie antwortete nicht, als ich wieder ihren Namen rief, und in ihrem Zimmer traf ich nur auf übliches Chaos – Berge von Aufzeichnungen und Kopien, Klamotten, leere Pizzaschachteln und Coladosen. Ich ging weiter und riss die Tür zum Wohnzimmer auf. Noch auf der Schwelle wich ich zurück.
Kälte schlug mir entgegen, Eiseskälte. Das Wohnzimmer war ein dunkler Raum, denn das gegenüberliegende Haus warf lange Schatten auf unseres und hielt die Sonnenstrahlen fern. Wenn wir im Winter während der Semesterferien Salzburg verließen und nicht heizten, erwartete uns hinterher jedes Mal ein Kühlschrank. Aber es war kein Winter, die Nächte zwar kühl, aber nicht frostig, und dennoch war der Raum so kalt, dass ich augenblicklich eine Gänsehaut bekam.
Erst als ich richtig zu zittern begann, konnte ich mich aus meiner Starre lösen. Rasch ging ich zur Heizung und stellte sie an. In der Leitung begann es zu gurgeln, doch ich fror so sehr, dass ich nicht warten wollte, bis sich der Heizkörper erwärmte. Ich beeilte mich, das Wohnzimmer zu verlassen und die Tür fest hinter mir zu schließen.
Rasch wurde mir wieder warm, aber dennoch
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