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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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zurück, um unruhig durch die Gänge zu streifen und nach Nathan Ausschau zu halten. Ich schwänzte eine Vorlesung und ein Kompetitorium, nur die Stunde bei Professor Wagner wagte ich nicht zu versäumen. Ungewohnt streng rügte er mich, das ich heute so unkonzentriert sei. Ich entschuldigte mich immer wieder, aber zusammenreißen konnte ich mich nicht: Meine Finger blieben steif und ungelenk, und die Noten verschwammen vor meinen Augen.
    Den ganzen Nachmittag und auch am nächsten Morgen ging ich von einem Überaum zum nächsten, doch nirgendwo traf ich auf Nathan. In der Mensa, wo ich ihn zuletzt suchte, bestellte ich einen Tee, aber trank ihn nicht, rührte nur in der vollen Tasse und klammerte mich an die Hoffnung, dass ihm einfach nur etwas ebenso Unaufschiebbares wie Kurzfristiges dazwischengekommen war, für das er Salzburg hatte verlassen müssen. Ja, so musste es gewesen sein! Und er hatte mich nicht rechtzeitig informieren können, da er weder meine Adresse noch meine Telefonnummer kannte.
    Am späten Nachmittag des dritten Tags traf ich in den Gängen des Mozarteums zwar nicht Nathan, aber Matthias Steiner. Ich stürzte auf ihn zu und fragte ebenso atem- wie grußlos, ob er wüsste, wo Nathanael Grigori sei – längst zu zermürbt, um höflich zu sein oder mich gleichgültig zu geben. Er zuckte nur die Schultern, murmelte ein knappes »Keine Ahnung«, aber gab mir immerhin seine Adresse. Nathan wohnte nicht weit von hier, dort, wo sich Linzergasse und Priesteramtsgasse kreuzen. Ich rannte im Laufschritt dorthin und war, als ich ankam, völlig außer Atem. Als ich die Klingelschilder durchging, stieß ich bei einem zwar nicht auf seinen Namen, aber auf die Initialen N. G. Ich musste mich zwingen zu warten und nicht sofort Sturm zu läuten. So schwer es mir auch fiel, mich zu gedulden – schweißnass und keuchend wollte ich nicht vor ihn treten. Schließlich hatte sich mein Atem halbwegs beruhigt, und ich läutete. Niemand öffnete mir. Ich blieb, bis es dunkel war, läutete immer wieder, obwohl ich ahnte, dass es zwecklos war, und schlich dann mutlos und niedergeschlagen nach Hause. Eine unruhige Nacht lag vor mir; erst nach Mitternacht schlief ich ein und erwachte schon um vier Uhr morgens wieder. Ohne darüber nachzudenken, was ich tat, zog ich mich wie eine Schlafwandlerin an und verließ die Wohnung, um wieder zur Linzergasse aufzubrechen.
    Verrückt, verrückt, verrückt!, ging es mir im Takt meiner Schritte durch den Kopf, einfach verrückt war diese Besessenheit, die mich immerzu an ihn denken ließ!
    Bis jetzt hatte doch nur eines ähnliche Entschlossenheit in mir bewirken können: das Klavierspiel. Doch in den letzten drei Tagen hatte ich kaum geübt. Ich schalt mich dafür, verrückt, verrückt, verrückt!, und konnte mich dem übermächtigen Wunsch, Nathan zu sehen, dennoch nicht entziehen.
    Als ich ankam, war es noch stockdunkel. Wieder wartete ich, bis mein Atem ruhiger wurde, wieder klingelte ich. Minutenlang tat sich gar nichts, und ich wollte schon aufgeben, als plötzlich ein Schatten hinter der gläsernen Eingangstür erschien. Anstatt von seiner Wohnung aus einfach den automatischen Türöffner zu betätigen, war Nathan nach unten gekommen.
    »Was machst du hier?«, fragte er grußlos.
    Meine Erleichterung, ihn zu sehen, war fast schmerzhaft. Es war, als würde Gefühl in Glieder zurückkehren, die viel zu lang in kaltem Wasser gelegen hatten. Doch die Erleichterung währte nicht lange, sondern wandelte sich im nächsten Moment in Entsetzen: Im grellen Licht der Lampe, die den Gang erleuchtete, sah er so fremd aus. Er wirkte schmal und dünn, als hätte er in den wenigen Tagen viele Kilos abgenommen, seine Haltung war gebückt, als schleppe er eine schwere Last. Sein Gesicht schien verzerrt, als hätte sich eine hauchdünne, wächserne Maske darübergelegt. Diese Maske machte ihn nicht nur noch blasser, müde und irgendwie leblos, sondern schien sämtliche Farbe und Glanz aus seinen Augen zu ziehen. Eine Weile konnte ich nichts anderes tun, als ihn fassungslos anzustarren.
    »Was machst du hier?«, fuhr er mich wieder an.
    Hilflos rang ich meine Hände. Bis jetzt hatte ich nicht einmal bemerkt, wie sehr ich in der kalten Nachtluft fror. »Ich … ich wollte nur wissen, ob … ob es dir gut geht … «, stammelte ich. Es war mir so richtig, ja so unausweichlich erschienen, hierherzukommen, doch jetzt wäre ich am liebsten im Boden versunken. Wie konnte ich ihn nur so früh am Morgen aus

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