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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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sondern ein lauter Knall. Eine Tür war zugefallen, und im ersten Moment war ich sicher, dass es unsere Wohnungstür gewesen war. Zitternd stürzte ich in den stockdunklen Flur, blickte panisch in alle Richtungen – um dann erst zu bemerken, dass mir meine Sinne einen Streich gespielt hatten.
    Das Flüstern setzte wieder ein, aber es kam nicht aus unserer Wohnung, sondern, ebenso wie der Knall, aus dem Treppenhaus. Fröstelnd ging ich unseren Flur entlang und stieß mir meinen Ellbogen an einer Kommode. Am Kleiderständer hing meine Jacke, und ihre Umrisse glichen in der Dunkelheit einem Erhängten.
    In der Wohnungstür steckte der Schlüssel, und ich drehte ihn zweimal um, tastete nach dem Sicherheitsschloss, das wir so gut wie nie verwendeten, und sperrte auch dieses zu. Dann erst wagte ich mein Auge gegen das Guckloch zu pressen. Die Stimmen wurden lauter und schwollen zu einem Meer an, doch trotz der hörbar vielen Menschen, die auf der Treppe miteinander tuschelten, war es auch vor der Wohnung stockdunkel.
    Was machten diese Leute denn da im Dunkeln?
    Ein nüchterner Gedanke ermöglichte es mir, die aufsteigende Panik zu unterdrücken.
    »Du Idiotin!«, schimpfte ich mit mir. Natürlich war es auch im Treppenhaus dunkel! Der Strom war ja ausgefallen! Die anderen Bewohner des Hauses hatten den Stromausfall wohl lange vor mir bemerkt und diskutierten nun bestimmt, was zu tun war.
    Meine Anspannung entlud sich in einem nervösen Kichern. Schnell wollte ich wieder zurück ins Bett und mich unter der Decke wärmen. Doch ich hatte mich noch nicht von der Wohnungstür abgewandt, als ein ohrenbetäubender Lärm losbrach. Ich hörte ein Keuchen und Stöhnen, hektische Schritte und lautes Krachen, ein Rumpeln, Stoßen, Trampeln. Wieder fiel eine Tür ins Schloss, Schuhsohlen quietschten auf dem Linoleumboden, es gab ein merkwürdiges Scharren und Klirren. Letzteres klang so, als würden Unmengen von Porzellan zerbrochen.
    Ich presste wieder mein Auge ans Guckloch, konnte aber erneut nichts anderes wahrnehmen als Schwärze und wich doch ängstlich zurück – nicht nur vor den unheimlichen Geräuschen, sondern weil mich plötzlich die Gewissheit überkam, dass jemand unmittelbar vor meiner Tür stand, dort langsam atmete und mich unverwandt anstarrte.
    Schauer liefen mir über den Rücken, und obwohl ich weiterhin vor Kälte und Furcht zitterte, wurden meine Handflächen schweißnass.
    Unvermittelt begann diese fremde Gestalt mit mir zu reden. Ihre absonderliche Stimme klang nicht menschlich, sondern wie das Gezische einer Schlange, und doch war mir, als würde ich vier Worte verstehen, die mir durch die Tür hindurch zugeflüstert wurden.
    Er ist der Falsche.
    Der knappe Satz echote wieder und wieder in meinen Ohren. Ich hatte das Gefühl, sie würden zerreißen, und diesmal bewahrte mich keine nüchterne Überlegung vor der panischen Angst. Ich stürzte ins Wohnzimmer, streifte dabei die Jacke, die auf dem Kleiderständer hing, und brachte ihn zum Kippen. Geräuschvoll schlug er auf dem Fußboden auf – doch dieser Lärm war lächerlich leise im Vergleich zu dem jetzt einsetzenden unheimlichen Getöse im Treppenhaus.
    Im Wohnzimmer tastete ich nach dem Telefon. Mehrmals entglitt mir der Hörer, und als ich endlich zu wählen imstande war, fiel mir die Notrufnummer nicht ein. Irgendwann gelang es mir doch, die Polizei zu erreichen. Während das Stöhnen, Trampeln und Klirren kein Ende nahm, sagte mir eine männliche Stimme immer wieder, ich solle mich beruhigen, endlich meine Adresse nennen und berichten, was vorgefallen sei.
    Ich weiß noch, dass ich meinen Namen stammelte. Aber ich kann mich nicht erinnern, wie ich die Zeit überstanden habe, bis endlich die Polizei eintraf.

    Als die zwei Polizeibeamten eintrafen, war der Lärm längst verstummt und ich angezogen. Zufällig hatte ich den Lichtschalter im Flur berührt, und die Glühbirne war sofort aufgeleuchtet. Nachdem sich meine Aufregung gelegt hatte, stellte ich fest, dass es wahrscheinlich gar keinen Stromausfall gegeben, sondern lediglich meine Nachttischlampe ihren Geist aufgegeben hatte. Das erklärte allerdings nicht, warum es im Treppenhaus trotz der vielen Menschen dunkel geblieben war.
    Erst nachdem die Beamten unten geläutet hatten und ich den Türöffner betätigt hatte, wagte ich, die Wohnungstür langsam zu öffnen. Graues Licht fiel durch die Treppenhausfenster; niemand war zu hören oder zu sehen; alles schien normal. Ich hörte die Schritte der

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