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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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fühlte ich mich unbehaglich. Zögerlich ging ich von einem Raum in den nächsten, nicht sicher, nach was oder wem ich suchte. Alles sah normal aus, Toilette, Bad, die winzige Küche, in der gerade mal eine Person stehen konnte. Als ich die Klinke meiner Zimmertür herunterdrückte, musste ich mich regelrecht dazu überwinden. Erleichtert atmete ich auf, als ich fühlte, dass in meinem Zimmer normale Temperatur herrschte, doch ich erstarrte, als mein Blick auf meinen Schreibtisch fiel.
    Ich war immer ordentlicher als Nele, und mein Zimmer im Vergleich zu ihrem nahezu perfekt aufgeräumt. Aber pedantisch war ich nie, auch wenn Nele das manchmal spöttisch behauptete. Nun aber waren meine Unterlagen – vor allem Noten, aber auch ein paar Manuskripte und Dokumente – so akkurat auf dem Schreibtisch gestapelt, als ob jemand die Abstände mit dem Lineal abgemessen und Blatt für Blatt überprüft hätte, dass auch jede Ecke millimetergenau auf der anderen lag. Zögernd trat ich näher, stand eine Weile vor meinem Schreibtisch und konnte mich kaum überwinden, das oberste Blatt anzufassen. Würde es sich kalt anfühlen? Hatte jemand meine Noten durchwühlt und sie hinterher wieder sorgfältig aufeinandergelegt? Oder spielte mir meine Phantasie einen Streich?
    Als Nele wenig später heimkam, lachte sie mich aus. Im Wohnzimmer war es kühl, aber nicht eisig kalt. Ich blieb in großem Abstand hinter ihr, als sie prüfend das Wohnzimmer betrat.
    »Hier soll es kalt sein?« Sie drehte sich zu mir um und schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich frierst du so, weil dein Liebster nicht in deiner Nähe ist.«
    Jetzt war es mir peinlich, so ängstlich reagiert zu haben. Ich verdrängte jeden Gedanken an die Kälte und versuchte, auch meinen Schreibtisch nicht länger argwöhnisch zu mustern. Nathan erzählte ich am nächsten Morgen nichts davon.
    Drei Tage später war die Kälte im Wohnzimmer vergessen. Als Nele am Abend verkündete, dass sie woanders übernachten würde – wahrscheinlich bei dem Biologiestudenten aus Amsterdam –, machte mir das keine Angst, sondern ich war im Gegenteil froh, ungestört üben zu können. Ich nutzte jede Minute, die mir bis 22.00 Uhr blieb, nahm anschließend ein ausgiebiges Bad und ging kurz vor Mitternacht ins Bett. Seitdem ich Nathan kannte, schlief ich schlecht und wenig. Auch jetzt war ich nicht richtig müde und beschloss, noch ein wenig zu lesen. Ich konnte mich kaum auf die Wörter konzentrieren. Immer wieder dachte ich an Nathan, an die Zeit, die wir miteinander verbracht hatten, und ich lächelte vor mich hin – beseelt, wie ich selber sagen würde, dümmlich, wie Nele es amüsiert genannt hätte.
    Als ich erwachte, war es stockdunkel. Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, meine Nachttischlampe ausgemacht zu haben. Das Buch lag zusammengeklappt zwischen Kinn und Brust.
    Eine Kante hatte sich schmerzhaft in meine Haut gebohrt. Ich legte das Buch beiseite und rieb die Stelle. Ich war halb im Sitzen eingeschlafen, nun richtete ich mich auf, um das Kissen zurechtzurücken.
    In diesem Augenblick hörte ich sie: Stimmen, mehrere Stimmen, kaum lauter als ein Flüstern, aber wild durcheinander.
    Ich ließ das Kissen sinken. Die Stimmen schienen unmittelbar aus dem Flur zu kommen. Immer schneller redeten sie aufeinander ein, aus dem Flüstern wurde ein Zischen, kein Wort war zu verstehen.
    »Hallo?« Meine Stimme versagte; das Einzige, was ich zustande brachte, war ein Krächzen. Doch es genügte, um das Flüstern und Zischen augenblicklich verstummen zu lassen. Ich lauschte angespannt. Totenstille. Meine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, und in meinem Zimmer sah alles so aus wie am Abend. Ich tastete nach meiner Nachttischlampe, versuchte sie einzuschalten, doch so oft ich auch auf den Schalter drückte – es blieb dunkel. Gerade noch hatte sich mit dem Verstummen der Stimmen mein Herzschlag beruhigt, nun pochte es ruckartig bis zum Hals.
    Kein Licht.
    Jemand hatte den Strom abgestellt.
    Ich stand auf, schlich zur Tür und presste mein Ohr daran. Immer noch blieb es totenstill.
    Die Taschenlampe … , fiel mir ein, irgendwo in der Wohnung hatten wir eine Taschenlampe … für Notfälle wie diesen gedacht …
    Doch mein Kopf schien wie ausgehöhlt. Je krampfhafter ich darüber nachdachte, wo sie sein könnte, desto sinnloser drehten sich meine Gedanken im Kreis.
    Ich schrie auf, als plötzlich wieder ein Geräusch erklang – diesmal kein Flüstern und Zischen,

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