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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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dem Bett klingeln! So elend, wie er aussah, war er wahrscheinlich krank, und ich hatte ihn geweckt!
    Ich senkte den Kopf und trat zurück. »Es tut mir leid … «, murmelte ich, und wieder ging es mir wie schon auf den Weg hierher durch den Kopf: Verrückt, verrückt, verrückt!
    Als ich mich umdrehte, fiel ich fast über meine eigenen Füße. Die Straße hinter mir war menschenleer, auch im Treppenhaus herrschte Totenstille.
    »Komm nie wieder hierher!«, rief er mir nach. Seine Stimme klang kalt, ausdruckslos. Konnte eine Abfuhr noch härter ausfallen?
    Ich hätte es wissen müssen, dachte ich, ich habe ihn gestört … er will nicht mehr mit mir spielen … das war’s …
    Ich dachte an das Lächeln, das ich geübt hatte und das ihm vorgaukeln sollte, dass er mir ziemlich gleichgültig wäre, doch jetzt war es unmöglich, es aufzusetzen und mich ein letztes Mal zu ihm umzudrehen. Das Einzige, was möglich war, war zu fliehen, wenn auch nicht in dem Tempo, mit dem ich hierhergehetzt war. Es fiel mir schwer, Schritt vor Schritt zu setzen. War das Blau seiner Augen auch matt, spürte ich doch seinen Blick, wie er sich in meinen Rücken brannte. Da ich nicht gehört hatte, wie die Haustür ins Schloss gefallen war, war ich mir zumindest sicher, dass er noch im Hauseingang stand und mir nachstarrte, und prompt stolperte ich.
    Ehe ich fallen konnte, stand er plötzlich neben mir, ergriff meinen Arm und fing mich auf. Keine Schritte, kein Atmen hatten ihn angekündigt – völlig lautlos war er mir nachgelaufen. Vor Schreck zuckte ich zusammen.
    »Sophie, warte!« Seine Stimme war nicht länger kalt, sondern traurig, tieftraurig. Er ließ mich los, und trotz seiner Bitte ging ich weiter, beschleunigte sogar meine Schritte. Wieder lief er mir nach, wieder berührte er meine Schultern, erst zaghaft, vorsichtig, dann packte er mich fest und hielt mich auf.
    »Sophie! Es gibt so viel, was ich dir nicht sagen kann«, begann er, »aber … aber ich wollte dich nicht kränken. Es tut mir leid, dass ich dich einfach versetzt habe, und es tut mir noch mehr leid, dass ich dich eben so angefahren habe. Aber das heißt nicht, dass ich nicht mit dir spielen will! Es ist mir so wichtig, dass wir gemeinsam … «
    Auch er, der mir bis jetzt immer so selbstbeherrscht und in sich ruhend vorgekommen war, geriet ins Stocken.
    Das gab mir Mut, ihm wieder ins Gesicht zu sehen. »Warum?«, fragte ich. »Warum willst du mit mir spielen? Ich weiß nichts von dir, nur, dass du ein begnadeter, sehr erfolgreicher Cellist bist. Ich hingegen – ich bin doch nur eine einfache Studentin. Warum also?«
    Ich zitterte unter seinen Händen, aber dennoch war ich innerlich ganz ruhig.
    »Mein Gott, was du für Fragen stellst, Sophie!« Der Anflug eines Lächelns überzog seine Lippen. »Du bist eine der außergewöhnlichsten Frauen, der ich seit langem begegnet bin … seit sehr langem.«
    Ich war mir sicher, dass er mich verspottete. Ohne Zweifel war ich eine begeisterte Musikerin und vielleicht auch außergewöhnlich talentiert – aber ganz sicher keine außergewöhnliche Frau. Ich fühlte mich weder besonders hübsch noch selbstsicher. Erfahrungsgemäß blickte man Frauen wie Hanne oder Nele nach, nicht mir. Doch in seinem Blick lag kein Spott, nur tiefe, ehrliche Zuneigung.
    »Nathan … «, murmelte ich.
    Im nächsten Augenblick war es egal, wie absurd seine Worte für mich klangen. Alles hätte er mir sagen können – und alles hätte ich ihm geglaubt.
    Seine Hände umklammerten meine Schultern noch fester; ihr Druck vertrieb mein Beben. Das Blau seiner Augen wurde wieder strahlend, durchdringend und klar. Ich glaubte, ihren Glanz förmlich zu spüren, auf meiner Stirn, meiner Nase, meinen Wangen. Er neigte sein Gesicht zu meinem, verharrte erst im letzten Moment. Ich konnte seinen Atem spüren, dann überwand ich selbst den letzten Abstand zwischen uns – von jener seltsamen Macht getrieben, die mich nächtens durch Salzburg laufen und an seiner Tür hatte läuten lassen. Unsere Lippen trafen sich, lagen eine Weile ganz ruhig aufeinander, warm und glatt. Seine Hände ließen meine Schultern los, glitten zu meinem Nacken, streichelten ihn. Schauder überliefen meinen Rücken, kribbelnd zuerst, dann fast so schmerzhaft wie Stromschläge. Noch war der Druck seiner Lippen zaghaft, wurde schließlich etwas fordernder; ich öffnete bereitwillig meinen Mund, schmeckte ihn, und erschauderte noch mehr, nicht mehr kalt und heiß zugleich, sondern wohlig.

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