Der Kuss des Morgenlichts
schweben.
Von nun an gingen wir öfter gemeinsam ins Café – manchmal saßen wir auf der Steinterrasse, manchmal auch im Bazar oder im Fürst; einmal spazierten wir hinterher an der Salzach entlang, und wieder ein anderes Mal lud Nathan mich nach dem gemeinsamen Musizieren, das wir diesmal am Abend angesetzt hatten, in eine Pizzeria ein. Er bestellte sich zwar etwas zu essen, aber er nahm nur einige Bissen davon, stocherte dann lustlos auf seinem Teller herum und beschränkte sich auf das übliche Wasser. Ich selber brachte zwar auch kaum etwas hinunter – meine Aufregung war zu groß –, dennoch war ich von seiner Appetitlosigkeit verwirrt. So widerwillig, wie er Bestellungen aufgab, schien es, als wäre es eine Zumutung für ihn, dass man regelmäßig etwas trinken und essen musste. Doch trotz des geringen Appetits – geschwächt wirkte er nie, im Gegenteil: All seine Bewegungen fielen stets vollkommen gelassen und ruhig aus; auch nach stundenlangem Cellospiel wirkte er nie angestrengt. Selbst wenn die Sonne auf ihn herabbrannte, schwitzte er nicht.
Noch etwas anderes gab es, was mich irritierte; zwar wurde er von Treffen zu Treffen offener, freundlicher und gesprächiger – zumindest was mich und die Musik betraf, über sich selbst gab er auch weiterhin nichts preis –, aber manchmal geschah es, dass er mitten im Wort verstummte und sich ein melancholischer, abwesender Ausdruck über seine Züge legte. Es war, als hätte er unvermittelt etwas gehört, was nur für seine Ohren bestimmt war, oder etwas gesehen, für das alle anderen Menschen blind waren. Er war nie fahrig oder nervös – ich sah seine Hände nur ein einziges Mal erzittern, und das war erst viel später –, und doch hatte ich das Gefühl, er sei zutiefst beunruhigt, ja unglücklich.
Manchmal hatte ich in seiner Gegenwart das Gefühl, als würde diese Traurigkeit über mich schwappen, einer schwarzen, unentrinnbaren Welle gleich, die erstickt, über wem sie zusammenbricht, eine Form von Verzweiflung, gewaltig und absolut, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Sie machte atemlos und starr, ohnmächtig und verletzbar, und obwohl ich eigentlich jede Sekunde genoss, die ich mit ihm zusammen war, erfasste mich in diesen Momenten das Bedürfnis, zu fliehen, möglichst schnell und möglichst weit weg. Doch meistens währte diese Anwandlung nur wenige Augenblicke; dann schwand die Düsternis aus seiner Miene, und auch ich fühlte mich wieder so wie in den Stunden, in denen mich seine Musik beflügelte: hellwach, aufgedreht, feinfühlig, unbeschwert.
Dann kam der Tag – ich hatte nicht mehr damit gerechnet –, als ich stundenlang vergebens im Überaum auf ihn wartete. Nathan kam nicht. Mit aller Macht versuchte ich mir einzureden, dass ich wohl den falschen Termin im Kopf gehabt hatte, aber ich wusste genau, dass das nicht der Fall war.
Nach einer Stunde, die mir endlos vorkam, pochten andere Studenten auf ihr Recht, den Raum zu benutzen. Ratlos ging ich im Gang auf und ab, unfähig, das Mozarteum zu verlassen. Ich hatte es mir zwar fest vorgenommen, mich ihm nicht aufzudrängen, falls er nicht mehr mit mir spielen wollte, doch nun konnte ich nicht einfach gehen, ohne eine Erklärung von ihm zu bekommen. Und selbst wenn er nicht bereit war, mit mir über seine Entscheidung zu reden – zumindest sehen wollte ich ihn, und wenn auch nicht sein Cello, so seine Stimme hören!
»Na«, lästerte Hanne, »hat dich dein Angebeteter versetzt?«
Ich hatte sie nicht kommen sehen und zuckte zusammen.
Sie schmiegte sich an mich, als wollte sie mich tröstlich umarmen, aber ihre Worte waren bissig: »Kein Wunder. Was soll er mit einem Mädel wie dir schon anfangen?«
Ich starrte sie nur hilflos an; selbst wenn mir etwas eingefallen wäre, was ich hätte erwidern können, ich hätte es nicht hervorgebracht. Meine Kehle tat so weh, als hätte ich Glasscherben geschluckt.
»Allerdings, er ist schon auch ein seltsamer Typ«, fuhr sie unbekümmert fort. »Jeder weiß nur so viel über ihn, wie auch auf unserer Internetseite unter Biographie steht. Keiner scheint ihn richtig zu kennen. Kannst eigentlich froh sein, dass du ihn los bist.«
Sie zog mich noch enger an sich.
Wenn ich auch nichts sagen konnte – mich ungestüm losreißen konnte ich. Zehn Schritte weiter brachte ich immerhin ein heiseres »Lass mich einfach in Ruhe!« zustande.
Es hatte keinen Sinn, an diesem Tag noch länger im Mozarteum zu bleiben, doch am nächsten Morgen kehrte ich zeitig
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