Der Kuss des Morgenlichts
selbst bei entfernter gelegenen wie dem in Hallein rief ich an.
»Was machst du denn da?«, fragte Nele überrascht, als sie ins Wohnzimmer kam.
»Es muss etwas passiert sein. Es kann nicht sein, dass er einfach so verschwindet.«
Sie runzelte skeptisch die Stirn. »Ist er nicht schon zwei Mal für ein paar Tage verreist, ohne dass er dir vorher Bescheid gesagt hat?«
»Ja, aber diesmal fühlt es sich anders an. Ich weiß auch nicht. Ich … « Tränen traten in meine Augen.
Zwei weitere Tage währte mein Warten und mein nun langsam doch immer hoffnungsloseres Suchen, das sich im Kreis drehte: Ich wählte seine Nummer, ich rief bei Krankenhäusern an, ich wartete vor seiner Wohnung, ich fragte im Mozarteum nach ihm. Dann kam der Brief.
An diesem Morgen war ich so kraftlos, dass ich nicht mal aufstehen konnte. Bis jetzt hatte sich die Schwangerschaft kaum bemerkbar gemacht, und ich hatte auch kaum einen Gedanken daran verschwendet, aber nun überkamen mich heftige Magenkrämpfe und Übelkeit. Ich konnte mich nicht daran erinnern, mich jemals so elend gefühlt zu haben. Erst gegen Mittag schleppte ich mich zur Küche, um mir einen Tee zu kochen und um ein paar Salzstangen herunterzuwürgen – davon überzeugt, dass ich sie nicht lange bei mir behalten würde. Ich rührte eben etwas Honig in den Tee, als es an der Tür läutete. Hoffnungsvoll stürzte ich in den Flur, doch als ich öffnete, war es nicht Nathan, der vor mir stand, sondern ein Bote, der mir einen Brief brachte. Mein Blick fiel auf den Absender. Nathan stand da in feiner, eleganter Handschrift. Kein Nachname, keine Adresse. Ich hatte die Tür kaum geschlossen, als ich das Kuvert bereits aufgerissen hatte.
Das weiße Blatt Papier, das ich hervorzog, war nur im oberen Drittel beschrieben.
Ich habe gehört, dass Du nach mir suchst, und ich möchte Dich darum bitten, es zu unterlassen. Ich habe mich entschieden, nicht länger in Salzburg zu bleiben. Mein Aufenthalt war von vornherein nur für einige Wochen geplant.
Sophie, womöglich habe ich falsche Erwartungen in Dir geweckt, aber ich dachte, es sei Dir immer klar gewesen, dass die Sache zwischen uns nicht von Dauer sein würde. Ich wollte Dich nicht verletzen. Falls das doch geschehen ist, tut mir das leid. Ich wünsche Dir alles Gute für Dein weiteres Leben, aber es ist besser für uns beide, wenn wir uns nie wiedersehen.«
Kein Gruß. Keine Unterschrift. Vor allem aber: kein Wort von meiner Schwangerschaft.
Ich las den Brief drei Mal, dann entglitt er meinen eiskalten Händen. Meine Knie gaben unter mir nach, und ich sank auf den kalten Boden. Stundenlang blieb ich dort sitzen, dann schleppte ich mich zum Klavier. Ich setzte mich an die Tasten, ohne sie zu berühren.
Als Nele heimkam, fand sie mich immer noch dort. Ich blickte nicht hoch, sagte kein einziges erklärendes Wort. Doch sie musste Nathans Brief gefunden und gelesen haben, denn sie sagte aufgebracht: »Das darf doch nicht wahr sein! Er hat sich einfach aus dem Staub gemacht?«
»Ja.« Meine Stimme klang erstaunlich fest. Ich drehte mich nicht zu ihr um.
Meine Hände glitten nun langsam über die Tasten, zunächst ohne sie niederzudrücken, eher so, als würde ich sie streicheln. Als ich schließlich zu spielen anfing, war es ein wahlloses Geklimper ohne jegliche Melodie.
»Was für ein Mistkerl!«, brach es aus Nele heraus.
»Ja«, sagte ich wieder schlicht.
»Und was willst du jetzt tun?« Ich spürte an ihrem heißen Atem, dass sie hinter mich getreten war. Sie musste schreien, um die Dissonanzen zu übertönen. »Du kannst dir das doch nicht einfach bieten lassen! Irgendwo muss er doch sein. Fahr ihm hinterher! Stell ihn zur Rede! Lass dich nicht mit diesen lächerlichen Zeilen abfertigen! Er muss doch Verantwortung übernehmen.«
»Nein.«
Ich hämmerte auf die Tasten; die vielen Misstöne taten weh in den Ohren – und zugleich taten sie irgendwie auch gut, wirkten befreiend.
»Und das Kind?«, schrie Nele gegen den Lärm an. »Was ist denn jetzt mit dem Kind? Willst du es denn überhaupt kriegen?«
»Ja.«
Meine Stimme war kaum zu hören.
»Aber du wolltest doch immer Pianistin werden? Wie willst du das schaffen? Vielleicht ist es besser … «
»Nein.«
Abrupt hörte ich mit dem Spiel auf. Nele legte mir ihre Hände auf die Schultern, doch ich entzog mich ihr unwirsch. So viel Nähe, körperliche Nähe, konnte ich jetzt nicht ertragen.
»Ach Sophie … «, seufzte Nele traurig, »kannst du denn gar nichts
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