Der Kuss des Morgenlichts
dieser Nachricht derart zu überfallen; ich versuchte mir einzureden, dass er einfach nur Zeit brauchte, sie zu verdauen.
Wir kamen in der Goldgasse an.
»Sophie«, setzte er an, schien nach Worten zu ringen, doch dann erklärte er lediglich knapp: »Wir reden später darüber. Ich komme am Abend.«
Wie vorhin sah er an mir vorbei und schien in Gedanken versunken. Er machte keine Anstalten, mich zu umarmen oder gar zu küssen.
Zögernd wandte ich mich ab und stieg die Treppe nach oben. Schwer wie Blei waren nun meine Füße. Sobald ich in der Wohnung angelangt war, ging ich in mein Zimmer, riss das Fenster auf und sah nach unten. Nathan stand noch immer an der gleichen Stelle vor dem Haus, und ich wollte ihm zuwinken, doch er hob seinen Blick nicht, sondern schaute in die eine, dann in die andere Richtung, so als suche er etwas, und eilte schließlich fort.
Ich sah ihm nach, bis er aus meinem Blickfeld verschwunden war – hin- und hergerissen zwischen Unbehagen, Enttäuschung und Freude über das Kind.
Er kam nicht wie angekündigt am Abend, und auch nicht am nächsten Tag. Ich ging ins Mozarteum, um dort nach ihm zu suchen, aber fand ihn nicht, und nachdem ich, immer noch voll Hoffnung, zurück in unsere Wohnung gehastet war, war er auch dort noch nicht aufgetaucht.
Ich wartete.
Ich wartete den ganzen Nachmittag, den ganzen Abend, die ganze Nacht. Ich schlief nicht, ich aß nichts, ich trank nichts. Als Nele mich am nächsten Morgen so am ganzen Körper zitternd und in Tränen aufgelöst vorfand, war sie ganz aufgebracht.
»Komm her«, schnaubte sie, während sie mich in ihre Arme zog, »was hast du denn erwartet? Dass er vor Freude in die Luft springt, wenn du gleich in der ersten Nacht schwanger wirst? So läuft das nicht!«
»Nele … «
»Jetzt iss erst mal was und dann versuch zu schlafen! Du siehst furchtbar aus.« Und dann, als ich nicht reagierte, sagte sie: »So sind die meisten Männer. Markieren erst den Helden, dann stecken sie den Kopf in den Sand. Wenn du Glück hast, reißt er sich nach ein paar Tagen wieder zusammen und ist immerhin bereit, zu zahlen.«
»Es geht doch nicht ums Geld«, stammelte ich.
»Pah!«, machte sie. »In jeder Beziehung geht’s über kurz oder lang nur ums Geld. So ist das Leben. Ach Sophie … Mach dir nichts vor!«
Vielleicht ließ ich mich dazu bewegen, etwas zu essen, vielleicht schlief ich auch ein paar Stunden – ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich später weiter wartete, wieder den ganzen Nachmittag, wieder den ganzen Abend – aber nur die halbe Nacht. Danach hielt ich es nicht mehr aus.
Nun gut, er war nicht zum ersten Mal ohne Ankündigung und Erklärung verschwunden – aber das hier war etwas anderes, das fühlte ich genau: Ich hatte ihm gesagt, dass ich schwanger war, und er hatte versprochen, dass er mit mir reden würde, noch am gleichen Abend.
Als er das letzte Mal Salzburg verlassen hatte, hatte er mir seine Telefonnummer gegeben, dabei allerdings deutlich gemacht, dass ich ihn nur im äußersten Notfall anrufen sollte. Ununterbrochen wählte ich nun seine Nummer, um von einer blechernen Stimme wieder und wieder zu erfahren, dass diese Rufnummer nicht mehr vergeben war. Am frühen Morgen machte ich mich zu seiner Wohnung auf – wieder einmal , wie eine vorwurfsvolle Stimme in meinem Kopf schimpfte, die noch nicht von Sorge und Erschöpfung bezwungen war. Ich läutete erst zaghaft, dann Sturm – nichts passierte. Das Haus war stockdunkel.
Ich stand bis zum Morgengrauem vor der Eingangstür, dann lief ich zum Mozarteum, um jeden, wirklich jeden, selbst die Putzfrau, zu fragen, ob sie Nathanael Grigori gesehen hätten. Die Frau starrte mich nur verständnislos an – in Hanne Lechners Blick hingegen konnte ich Mitleid, aber auch einen Anflug von Hohn erkennen.
»Suchst du ihn schon wieder? Kann es sein, dass dir dein Kerl alle paar Wochen davonläuft? Ich würde mir das ja nicht bieten lassen. Das scheint dich ja echt fertig zu machen. Hast du heute schon mal in den Spiegel geschaut?«
Ich ignorierte ihre Bemerkungen und fragte sie wieder, ob sie Nathan gesehen hätte. Hanne konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie ihm das letzte Mal begegnet war. Auch sonst hatte ihn – wie auch bei den letzten Malen, als er verschwunden war – niemand gesehen, niemand von ihm gehört.
Als ich nach Hause kam, begann ich überall anzurufen. Zuerst telefonierte ich mit der Polizei, dann mit sämtlichen Krankenhäusern der Stadt;
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