Der Kuss des Morgenlichts
als würde irgendjemand an meinen Organen herumziehen, sie verknoten, sie wieder lösen, aber nicht wirklich quälend, und nachdem er verebbt war, fühlte ich mich so lebendig und fiebrig berauscht wie schon seit Monaten nicht mehr. Ich horchte in mich hinein, aber da war keine Traurigkeit. Ich strich mein strähniges Haar aus dem Gesicht, vorsichtig, zögernd, als würde irgendetwas mich gleich packen, festhalten und weiterhin zur Regungslosigkeit verdammen. Aber das geschah nicht. Die Müdigkeit, die Lethargie, die Schwermut waren binnen weniger Minuten von mir abgefallen.
Ich streichelte mit beiden Händen über den gewölbten Leib, wartete fast sehnsüchtig darauf, dass der Schmerz zurückkehrte und mit ihm die jähe Gewissheit, dass ich stark genug war, ihn zu ertragen, dass ich an der Trennung von Nathan nicht zerbrochen war, dass ich Kraft hatte, viel Kraft, für mich – und für mein Kind. Zuerst kamen die Wehen im Abstand von zehn Minuten, dann in immer kürzeren Intervallen. Aus dem Ziehen wurde ein Zerren, aus meinem Atmen ein Keuchen. Dennoch blieb ich einfach liegen und stand erst auf, als graues Licht durch die Vorhänge floss.
Ich suchte nach meinen Hausschuhen, als eine neue Woge Schmerz mich schüttelte, noch intensiver als bisher und viel länger. Niemand schlang mehr Knoten in meinem Leib; vielmehr schien es jetzt so, als würde mit einem scharfen Messer darin herumgeschnitten, wahllos folternd, als könnte derjenige, der das Messer führte, sich nicht entscheiden, in viele Teile es mich zu zerstückeln galt. Ich schrie auf, stützte mich an der Wand ab und verharrte in dieser vorgebeugten Stellung, bis mir eine warme Flüssigkeit über die Schenkel lief. Ich hielt es für Blut – angesichts der Schmerzen konnte es nichts anderes sein.
Eben noch hatte ich mich wie berauscht gefühlt, trotzig entschlossen, jedem Schmerz standzuhalten, nun stieg Panik in mir auf.
»Nele!«, schrie ich. »Nele!«
Ich wankte nach draußen, klopfte an ihre Tür. Es dauerte eine Weile, bis sie mir schlaftrunken ihren Kopf entgegen streckte.
»Was ist los?«
Als ich auf meine nasse Pyjamahose deutete, stellte ich fest, dass es doch kein Blut gewesen war. »Das Fruchtwasser … Ich habe Wehen, seit etwa zwei Stunden … «
Schlagartig war sie wach. »Sag, bist du denn wahnsinnig? Warum hast du mir nicht früher Bescheid gegeben? Wir fahren sofort ins Krankenhaus. Oder soll ich den Notarzt rufen? Mein Gott, ich weiß gar nicht, was ich tun soll! Und du hast immer noch keine Tasche fürs Krankenhaus gepackt … «
Plötzlich hielt sie inne. »Lieber Himmel, Sophie!«
Ich klammerte mich an den Türrahmen. Der Schmerz riss und bohrte, schnitt und zerrte, grub und zerhackte. Instinktiv ging ich in die Hocke.
»Ich glaube, wir schaffen es nicht ins Krankenhaus«, stammelte ich. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich mir meine Lippen wundgebissen hatte.
Nele stürzte zum Telefon, rief einen Krankenwagen und führte mich dann ins Wohnzimmer. Ich kniete mich breitbeinig vor das Sofa und stützte meine Hände und meinen Kopf darauf ab – die einzige Haltung, das Messer zu ertragen, das in meinem Körper herumfuhrwerkte. Die Wehen waren nicht mehr ganz so schmerzhaft, aber mein Rücken begann wehzutun. Ich tastete meine Wirbelsäule ab; wie eine sich windende Schlange erschien sie mir, die überall ihr Gift verspritzte.
Ich schrie auf, wieder und wieder.
»Was soll ich denn jetzt machen?«, jammerte Nele. »Ich studiere Psychologie, nicht Medizin.«
Ich hatte keine Ahnung, was ich ihr raten sollte, wusste nur instinktiv, dass der Notarzt zu spät kommen würde. Nele konnte in ihrer Aufregung nicht aufhören zu reden. Vom Muttermund sprach sie … wie weit er wohl schon geöffnet war … ob das Kind wohl richtig lag … ob es wohl schon die Presswehen waren, die mich so quälten … und ob es nicht einen Moment gab – das hatte sie in einem Film gesehen –, in dem die Frau nicht mehr pressen durfte, sondern die Wehe veratmen musste?
Ihre Worte erreichten meinen Verstand nicht. Er schien von meinem Körper wie abgeschnitten, trieb irgendwo im Vakuum weit über dem krampfartigen Schmerz, den mir das Messer zufügte, das glühende Messer, das sich nicht mehr damit begnügte nur zuzustechen, sondern sich wieder und wieder drehte. Ich atmete nicht gegen den Schmerz an, wie Nele es mir hysterisch zuschrie, sondern überließ mich seinem Rhythmus. Die Lebendigkeit, Kraft und Entschlossenheit von vorher wichen einem einzigen
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