Der Kuss des Morgenlichts
was mir nicht gleichgültig war, war das Kind. Im frühen fünften Monat nahm ich erstmals seine Bewegungen wahr, so sachte, als würde ein Schmetterling von innen gegen meine Bauchdecke flattern. Ich weigerte mich zwar, mich mit der Geburt auseinanderzusetzen – weder las ich Ratgeber, noch besuchte ich einen Vorbereitungskurs –, aber wenn ich über meinen wachsenden Bauch strich, ahnte ich den Lichtstreifen am Ende der Finsternis. Nichts brachte mich dazu, mein altes Leben wieder aufzunehmen, unüberwindbar war die Zäsur, die Nathan darin gesetzt hatte, so, als hätte er mein Leben in zwei Teile zerschnitten, die nie wieder zu einem Ganzen wurden – aber etwas wusste ich: In diesem neuen Dasein, das vielleicht irgendwann doch wieder ein Leben mit Wünschen, Gefühlen, Sehnsüchten sein würde, war ich nicht allein.
Nele rief sogar meinen Vater an. Wir hatten kaum Kontakt; er hatte sich früh von meiner Mutter scheiden lassen, und ich glaube, das letzte Mal hatte ich ihn bei ihrem Begräbnis vor fünf Jahren gesehen. Aber er kam. Er musterte mich wie eine Fremde und konnte das Unbehagen nicht verbergen, das er bei meinem Anblick empfand. Ausgerechnet dieses verwahrloste Geschöpf sollte seine Tochter sein. Aber er versuchte sichtlich, sich zusammenzureißen, und erklärte, dass er mich so gut wie möglich unterstützen würde. Mir war klar, dass damit Geld gemeint war. Geld hatte er immer für mich gehabt – er bezahlte auch die Miete für die Wohnung und mein Studium –, aber niemals hatte er die Zeit gehabt, mich besser kennenzulernen. Ich nickte, wusste nicht, was ich ihm sagen sollte, und er schien erleichtert, als ich ihn bald wieder wegschickte.
In dieser Zeit – das gestand sie mir später – versuchte Nele auch, Nathan ausfindig zu machen. Ich glaube, sie hätte große Lust gehabt, ihm nachzureisen – selbst durch halb Europa – und ihn zur Rede zu stellen, nicht nur um mir zu helfen, sondern weil auch sie selbst unter dieser Situation mit mir sehr litt. Doch nicht nur in Salzburg hatte niemand von ihm gehört. An allen großen Konzerthäusern, wo er jemals aufgetreten war, gab es niemanden, der ihr sagen konnte, wo er sich befand. Alle Telefonate führten ins Leere, sämtliche Internetrecherchen in Sackgassen.
Irgendwann gab sie auf – genauso wie sie langsam die Hoffnung verlor, zu mir durchzudringen. Wir sprachen wenig miteinander; und obwohl sie mir regelmäßig Tee kochte oder mir etwas zu essen machte, hatte ich das Gefühl, dass sie mich zunehmend mied. Es war mir nur recht, am wohlsten fühlte ich mich alleine.
Über Weihnachten fuhr sie zu ihren Eltern, und als sie nach Salzburg zurückgekehrt war und an meine Zimmertür klopfte, sah ich die Angst in ihrem Gesicht, als sie eintrat. Erst später ging mir auf, dass sie mit der Furcht gekämpft hatte, ich könnte mir etwas angetan haben. Dieser Gedanke kam mir nie; trotz anhaltender Übelkeit hatte ich auch während der Feiertage regelmäßig gegessen. Anzusehen war es mir nicht. Bis auf meinen Bauch und die geschwollenen Brüste war ich noch dünner geworden.
»Wenn ich diesen Mistkerl zwischen die Finger kriege!«, stieß Nele unvermittelt aus.
Wir hatten in den letzten Monaten nicht mehr über Nathan gesprochen. Immer wenn wir dem Thema zu nahe kamen, hatte ich schnell von etwas anderem gesprochen.
Nun starrte ich nachdenklich auf meine Hände.
»Er hat gesagt, dass er mich liebt«, murmelte ich, »und dass ich eine außergewöhnliche Frau bin … «
»Wahrscheinlich, um dich ins Bett zu kriegen. Was für ein Schwein!«
Ich widersprach nicht. Ich wusste – alles sprach dafür, dass es so war, wie sie sagte. Doch auch die grenzenlose Enttäuschung, die Trostlosigkeit und meine Selbstzweifel konnten die Gewissheit nicht ausmerzen, dass Nathan nicht gelogen hatte.
Ich ahnte, dass es einen Grund für sein Verschwinden geben müsste. Aber ich ahnte auch, dass ich ihn wohl nie erfahren würde.
Meine Tochter wurde im März des nächsten Jahres geboren.
Ich erwachte in dunkelster Nacht von einem schmerzhaften Ziehen im Unterleib. Vage konnte ich mich daran erinnern, dass die Domuhr zwölf Uhr geschlagen hatte, als ich das Licht gelöscht hatte. Kurz danach war ich eingeschlafen. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Stunden seitdem vergangen waren, aber als ich die Augen öffnete, fühlte ich mich hellwach. Ich richtete mich auf, machte Licht. Der Schmerz, der mich aufgeweckt hatte, stach erneut in meinen Leib. Er war unangenehm, so,
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