Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
Vom Netzwerk:
anderes mehr sagen als ja oder nein?«
    Ich fuhr herum und starrte sie an. Ich bot wohl einen fürchterlichen Anblick, denn sie hielt entsetzt den Atem an.
    »Sophie … «, flüsterte sie ängstlich.
    Ich fühlte mich wie versteinert, unfähig, noch einmal die Tasten zu berühren, geschweige denn weiterzuspielen. Ich dachte an meine Auftritte, die Nervosität, die mich immer begleitet hatte, die Verzweiflung, die mich überkam, wenn ich trotz gegenteiliger Beteuerung von Professor Wagner überzeugt war, dass ich nicht gut gespielt hatte. Nicht gut genug .
    Ich war auch für Nathan nicht gut gewesen, nicht gut genug – bestimmt hatte er mir auch nicht gut getan, aber was zählte das?
    Er hatte gesagt, dass er mich liebte, aber jetzt war mir klar, dass er mir nur etwas vorgemacht hatte. Dass ich ihn liebte – und immer noch liebte –, daran zweifelte ich nicht, aber ich zweifelte in anderer Hinsicht an mir. Dass ich außergewöhnliches Talent besaß, dass ich zur Pianistin taugte – all das hatte ich mir nur vorgemacht. Jetzt wurde es mir ganz deutlich.
    Mit einem lauten Knall schlug ich den Deckel des Klaviers zu. Als der Lärm verhallt war, sagte ich mit kalter Stimme, die ich selbst kaum wiedererkannte, in die Stille hinein: »Ich werde nie wieder Klavier spielen.«

    Ich merkte kaum, wie die nächsten Monate vergingen, wie auf einen heißen Sommer ein verregneter Herbst und schließlich ein grauer Winter folgte. Ich spürte weder Kälte noch Hitze, ich spürte nur Schmerz – am Anfang so heftig, als würde er mich zerreißen, später ein dumpfes, stetiges Pochen in der Brust. Ich war mir nicht sicher, woher dieser Schmerz rührte, ob vom Kummer oder auch von körperlichen Beschwerden, die die Schwangerschaft mit sich brachte. Ich kämpfte nicht dagegen an, nahm ihn ebenso teilnahmslos hin wie die Trägheit, die mich befallen hatte. Jeder Schritt stellte eine Überwindung da, jeder Bissen Essen verursachte mir Übelkeit. Während andere Frauen in der Schwangerschaft zunahmen, schwoll zwar der Bauch bei mir auch an, aber der übrige Körper wirkte von Tag zu Tag ausgezehrter und schwächlicher.
    Nele wusste sich keinen Rat mehr, sie schwankte zwischen Unmut, weil ich jeden Zuspruch ablehnte, und Betroffenheit, weil sie mich noch nie in solch elendem Zustand gesehen hatte. Anfangs versuchte sie noch alles, um mich aus meiner Lethargie zu befreien. Es war hoffnungslos.
    Dennoch hatte Nele einen neuen Versuch gewagt und nach Ende der Sommerferien einige Mitstudenten, obwohl sie wusste, dass ich im Mozarteum nicht besonders beliebt war, zu uns nach Hause eingeladen. Hanne Lechner war auch dabei. Als sie mich in meinem Zustand sahen, waren sie bestürzt und bestürmten mich alle, dass ich das Klavierspiel nicht aufgeben dürfe, da ich doch so unglaublich talentiert sei. Ich starrte in ihre Gesichter, glaubte ihnen nicht, murmelte irgendetwas von der »Japanerin«, die ich in ihren Augen doch sei, eine Streberin, eigenbrötlerisch, uninteressant. Warum ließen sie mich nicht einfach in Ruhe?
    »Ich weiß, dass du dich vor öffentlichen Auftritten fürchtest«, rief Jan Meyer, der Klarinettist, »aber das darf doch kein Grund sein … «
    Als ob mein Lampenfieber der Grund gewesen war, das Klavierspiel aufzugeben! Als ob diese Ängste jetzt noch von Bedeutung waren, gemessen an der einen großen, die Wirklichkeit geworden war: Die Angst, ohne Nathan weiterleben zu müssen!
    »Ich kann nicht mehr«, murmelte ich, »ich kann einfach nicht mehr.«
    Nachdem das Zureden nicht fruchtete, verließen sie mich mit einer Mischung aus Befremden, Mitleid und Verachtung. Am nächsten Tag besuchte mich Professor Wagner. Der Ärger, dass ich meine Bakkalaureatsprüfung einfach hatte ausfallen lassen, war längst tiefer Sorge gewichen. Über eine Stunde redete er auf mich ein, beschwor mich, meine Begabung nicht wegzuwerfen, und versicherte mir, dass ich die Prüfung natürlich zu einem späteren Zeitpunkt nachholen könne, dass es kein Problem sei, ein paar Monate auszusetzen, wenn ich nur … Früher wäre es mir wohl peinlich gewesen, wenn er mich in einem solchen Zustand vorgefunden hätte – noch im Bett und im Schlafanzug, ungeduscht, mit strähnigem Haar und fahler Haut –, doch jetzt war mir alles gleichgültig, auch, als seine Stimme einen immer zornigeren Klang annahm.
    »Was wollen Sie denn nun mit Ihrem Leben anfangen?«, fragte er mich, und ich starrte ihn blicklos an und dachte: Welches Leben meint er?
    Das Einzige,

Weitere Kostenlose Bücher