Der Kuss des Morgenlichts
Wunsch – der Hoffnung, dass es aufhörte, dass die Schmerzen nachließen.
Irgendwann hatte ich tatsächlich das Gefühl, dass das Messer kurz stillstand. Als ich den Kopf hob, sah ich, dass Nele die Vorhänge beiseitegeschoben hatte. Der Wind hatte aus dichten Wolkenknäueln hauchdünne Fäden gezogen und das dunkle Grau des Himmels so lange zerzaust, bis die ersten Sonnenstrahlen hindurchdrangen, noch nicht kräftig und gleißend, sondern von blassem Rosa.
Ich presste die Augen wieder zusammen, hörte mich wie von weither vor Schmerzen schreien.
»Setz dich aufs Sofa!«, schrie Nele. »Und spreiz die Beine! Sonst sehe ich ja gar nichts.«
Ich gehorchte, veränderte meine Position und ließ meinen Kopf schließlich nach hinten fallen. Als ich wieder zum Himmel blickte, waren die Wolken zerstoben und aus dem blassen Rosa eine warme Glut geworden, die die letzten Schleier der Nacht verglühen ließ.
»Ich sehe das Köpfchen«, kreischte Nele. Wenn sie nicht gerade schrie, kicherte sie hysterisch.
Ich hingegen war völlig ruhig geworden. Ich schrie nicht mehr, stöhnte nicht einmal. Ich fixierte den rostrot brennenden Himmel, hatte das Gefühl, auf ihn zuzuschweben, mich aus meinem Körper zu befreien, ihn einfach zurücklassen, ihn und alles, was die alte Sophie ausgemacht hatte: die Unsicherheit, die sich oft in Schroffheit kleidete, die Versagensängste, die sich nicht abschütteln ließen, diese bedingungslose wie ohnmächtige Liebe zu Nathan, die mich so glücklich und so unglücklich wie nie zuvor in meinem Leben gemacht hatte, die Sturheit, mit der ich mich einer Sache annahm, auch wenn sie mich zerstörte. Wer würde ich sein, wenn nichts mehr von dieser Sophie übrig blieb? Und konnte ich sie überhaupt so einfach abstreifen?
Eben noch in den Anblick des Himmels versunken, in der Ahnung, dass es keinen intensiveren, keinen anstrengenderen und keinen schöneren Augenblick in meinem Leben geben würde als diesen, riss Neles Stimme mich wieder zurück in das Meer aus Schmerzen.
»Press! Du musst pressen!«
Und dann konnte ich nicht länger über mich nachdenken; dann blieb wieder nur diese eine Hoffnung, dass die Schmerzen irgendwann aufhören würden.
Als der Krankenwagen kam, war meine Tochter bereits geboren. Nele hielt sie in den Händen und lächelte beseelt und erschöpft zugleich.
Als es an der Tür läutete, legte sie mir gerade das Kind auf den Bauch. Es fühlte sich warm und feucht an und schrie aus voller Kehle. Ich hob die Hand, streichelte über das Köpfchen, das zerquetscht wirkte, und über die dunklen Haare, die über und über von Blut und gelblichem Schleim bedeckt waren.
Das Schreien wurde etwas leiser. Als der Notarzt ins Wohnzimmer stürzte, öffnete meine Tochter das erste Mal ihre Augen. Ich versank in strahlendem Blau, Nathans Blau.
»Es ist ein Mädchen«, flüsterte Nele.
Das hatte ich immer gewusst, obwohl ich es mir während der Schwangerschaft nicht hatte sagen lassen und ich auch jetzt nicht nachgeschaut hatte.
Das Himmelsrot verblasste, als der Notarzt erst das Kind, dann mich untersuchte.
»Aurora«, murmelte ich. »Sie soll wie die Göttin der Morgenröte heißen. Aurora.«
III .
In den ersten Jahren mied er es eisern, ihr nahe zu kommen. Nicht einmal aus der Ferne beobachtete er, wie das Kind wuchs, sondern hielt entschlossen an dem lächerlichen Ablenkungsmanöver fest.
Es war nicht leicht, aber auch nicht unerträglich, die Sehnsucht zu bezwingen. Schließlich gab es so viel zu tun, was seiner Aufmerksamkeit bedurfte, so viel zu bedenken und vorzubereiten für das künftige Werk. Er musste Diener um sich scharen, willfährige, kampfeslustige, unterwürfige Diener, und er musste dafür sorgen, dass sie stark genug wurden.
Außerdem machte es ihm die Sache leichter, dass das Kind, solange es nur ein pausbäckiger, glatzköpfiger Säugling war, keinerlei Reiz für ihn hatte.
Das änderte sich erst nach und nach.
Als er sich viele Jahre später das erste Mal wieder in die Nähe der beiden wagte, erkannte er, zu welch ausnehmend hübschem Mädchen sie herangewachsen war. Ihre feinen Züge glichen ihrer Mutter. Ihr dunkles, lockiges Haar glänzte in der Sonne rötlich. Ihre Augen hoben sich durchdringend blau von der blassen Haut ab.
Er wusste, dass das so nicht bleiben würde, aber erst wenn die Zeit der Verwandlung heranbrach, würde sich erahnen lassen, wer sie war. Bis dahin gab es nichts, was sie besonders schnell, und nichts, was sie besonders langsam
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