Der Kuss des Morgenlichts
lernte. Sie war etwas scheu, wortkarg und zögerlich, doch nicht in einem Maße, dass es auffiel.
Sophie schien es hinzunehmen, dass Aurora zu den stilleren, sensibleren Kindern gehörte, vielleicht etwas zu vernünftig und zu pragmatisch für ihr Alter, aber scheinbar zufrieden und in sich ruhend.
Sie ahnte nicht, worauf Aurora zusteuerte.
Sie ahnte auch nicht, dass er nun immer wieder als geräuschloser Schatten in ihr Leben zurückkehrte.
Er würde erst im richtigen Augenblick ins Licht treten, um nicht nur sie endgültig für sich einfordern, sondern auch das Kind, ja, vor allem das Kind.
SIEBEN JAHRE SPÄTER
Als ich mit Aurora am Hallstättersee eintraf, war es später Nachmittag. Dunst hing über dem See; die dunkelgrüne Oberfläche schien weich wie Moos. Kein Kräuseln furchte dieses glatte Tuch und verriet die kalte Tiefe, die darunterlag. Nahtlos schmiegte es sich an das Ufer – steinig, begrast oder von dichten Nadelwäldern bedeckt, die spitze Schatten auf das Wasser warfen.
Ich hatte das Autofenster heruntergelassen, atmete tief die frische Luft ein und fühlte, wie meine Anspannung nachließ.
Es war richtig, dass wir hierhergekommen waren, sagte ich mir, ja, es war richtig.
Nicht zum ersten Mal versuchte ich, mich selbst von etwas zu überzeugen – doch noch nie war es mir so gut gelungen.
Wir hatten Salzburg kurz nach dem Mittagessen verlassen und waren auf der A 1 vor Thalgau in einen Stau geraten, der uns mindestens zwei Stunden gekostet hatte. Ungeduldig hatte ich auf das Lenkrad getrommelt, während Aurora die Verzögerung gar nicht bemerkt, sondern in einem ihrer Bücher geblättert hatte. Beim Wolfgangsee hatten wir eine Rast eingelegt, Früchtetee getrunken und frischen Mohnstrudel gegessen. Strahlend blau war der Himmel gewesen, nur von einigen wenigen weißen Wolken befleckt. Doch als wir nach Hallstatt kamen, wurde das Licht trüber.
Die ersten Häuser ragten vor uns auf, und ich erzählte Aurora von dem malerischen Ort und den mächtigen Bergen, in deren Mitte er lag. Man sah nur den Fuß des Dachsteingebirges – die Gipfel waren von dichten Nebelschwaden eingehüllt. Aurora erwiderte nichts, doch im Rückspiegel sah ich, dass sie ihr Buch zur Seite gelegt hatte und neugierig nach draußen starrte, als wir den Steingraben verließen, durch einen Tunnel an dem verwinkelten Hallstatt vorbeifuhren und nun die Obertrauner Straße erreichten. Von dort führte, etwa fünf Kilometer vom Ortszentrum entfernt, eine kleine Straße zu der Anhöhe, auf der sich die Villa befand. Ich hatte sie von meinem Vater geerbt, der sie vor einigen Jahren gekauft, aber das Ziel, von Salzburg wegzuziehen und hier seinen Lebensabend zu verbringen, nicht mehr hatte umsetzen können. Ich selbst hatte mich in den drei Jahren seit seinem Tod nie um das Anwesen gekümmert, sondern die vielen Renovierungsarbeiten gescheut.
Das letzte Stück war so steil, dass es nur im ersten Gang zu bewältigen war. Der Motor heulte mehrmals auf.
Als wir vor der Villa hielten, warf ich wieder einen Blick auf Aurora, und trotz meiner deutlich spürbaren Entspannung war er wie immer besorgt. Angesichts dessen, was seit ihrem siebten Geburtstag geschehen war, war das kein Wunder. Und dass wir Salzburg Hals über Kopf und noch eine Woche vor den offiziellen Schulferien verlassen hatten, fühlte sich wie eine Flucht an. Doch als ich sah, mit welch neugierigem Gesicht Aurora die Villa betrachtete, musste ich lächeln.
Ja, es war richtig, hierhergekommen zu sein, dachte ich wieder. Hier wird alles wieder gut werden, oder zumindest: wieder normal, so normal wie unser Leben noch vor wenigen Monaten war.
»So, hier sind wir«, rief ich. Aurora öffnete selbst den Gurt ihres Kindersitzes und sprang aus dem Auto, um das Gebäude in Augenschein zu nehmen.
Fasziniert deutete sie hoch zum ersten Stock. »Die Türme da oben sehen ja aus wie bei einem Schloss!«
Mein Lächeln wurde breiter. Schon seit Wochen hatte nichts mehr sie so begeistern können. Während ich bisher beim Anblick der Villa immer innerlich gestöhnt hatte, weil es endlos viel instand zu setzten galt, betrachtete ich sie nun aus Auroras Augen.
Sie war Ende des 19. Jahrhunderts errichtet worden – von einer reichen Wiener Kaufmannsfamilie, die hier mit der wachsenden Kinderschar ihre Sommerfrische verbracht hatte. Seitdem schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Es musste mindestens ein Jahrhundert vergangen sein, seitdem das Gebäude zum letzten Mal gestrichen
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