Der Kuss des Morgenlichts
dass ich sofort stehen blieb. Wieder beugte ich mich zu ihr, drückte sie ganz fest an mich und strich ihr über den Kopf. Diesmal wehrte sie sich nicht gegen die Umarmung.
»Geh nicht in seine Nähe!«, flüsterte sie erstickt.
Langsam ließ ihr Zittern nach.
»Ganz ruhig«, tröstete ich Aurora, »ganz ruhig. Es war nur der Wind … und selbst wenn dort wirklich jemand gestanden haben sollte, dann ist er längst fort.«
Ich starrte zum Wald, nahm aber nicht auch nur die geringste Bewegung wahr.
Minutenlang verharrte Aurora in meiner Umarmung; dann machte sie sich los und sammelte ihre Stofftiere ein. Neles Hase war schwarz vor Dreck.
»Den können wir waschen«, sagte ich zu Aurora, obwohl ich mir sicher war, dass die Verzweiflung in ihrem Gesicht nicht von dem schmutzigen Stofftier herrührte.
Rasch liefen wir auf die Villa zu, und kaum hatten wir sie betreten, verriegelte ich nicht nur die Haustür, sondern schloss auch alle Fensterläden – selbst die in den oberen, unrenovierten Räumen.
Unruhig wälzte ich mich in meinem Bett hin und her. Düstere Gedanken hielten mich davon ab, einzuschlafen – Erinnerungen an die letzten Wochen, aber auch der nagende Zweifel, ob die Entscheidung, den Sommer hier zu verbringen, nicht doch ein Fehler gewesen war.
Warum?, fragte ich mich wie so oft. Warum hatte sich Aurora so verändert?
Wir hatten doch ein sorgloses Leben, wir beide, bildeten – auch wenn Nele behauptete, dass es das gar nicht geben könne – eine perfekte Einheit. Ich war vom Tag ihrer Geburt an darin aufgegangen, Mutter zu sein, hatte als solche nie mit den Selbstzweifeln und dem Gefühl, nicht gut genug zu sein, kämpfen müssen wie seinerzeit als angehende Pianistin – zumindest bis jetzt nicht. Ich genoss mein Leben, und ich war glücklich, so glücklich, wie ich ohne Nathan eben sein konnte. Manchmal verbot ich mir die Gedanken an ihn nicht rechtzeitig und fühlte in der Tiefe meiner Seele eine Leere klaffen. Doch die Schwermut und die Trägheit, die mich durch die Schwangerschaft begleitet hatten, waren am Tag von Auroras Geburt von mir abgefallen – und mit ihnen meine Befangenheit, meine Versagensängste und die unangenehme Angewohnheit, bei jeder Gelegenheit zu erröten. Ich beschränkte Außenkontakte aufs Nötigste und mied insbesondere fremde Menschen, aber sie schüchterten mich nicht mehr ein, setzten mir nicht zu wie früher.
Wenn Aurora sich wohl fühlte, tat ich das auch, und solange sie sich wohl fühlte, war alles gut.
Ja, es war ein ruhiges, friedliches, erfülltes Leben gewesen, das ich geführt hatte – bis zu Auroras siebtem Geburtstag.
Weiterhin wälzte ich mich unruhig hin und her. Der Nachmittag mit Nele kam mir in den Sinn. Der Tag, an dem ich ihr von meinen Sorgen erzählt hatte.
Nele war wenige Wochen nach Auroras Geburt ausgezogen. Sie sagte, die Wohnung sei zu klein für uns drei, und ich denke, dass es ihr auch ein Bedürfnis war, für sich selbst einen neuen Anfang zu finden. Aber sie würde gerne die Patentante sein, hatte sie erklärt, die regelmäßig zu Besuch kam, Geschenke mitbrachte und jederzeit als Babysitter einsprang.
Je nachdem, was in ihrem Leben gerade passierte – ob sie wieder einmal neu verliebt war oder ob sich wieder einmal ihr Berufswunsch geändert hatte – kam Nele mal öfter, mal seltener bei uns vorbei. In den letzten Monaten war ihr Leben weniger unruhig verlaufen. Zwar hatte sie immer noch schnell wechselnde Männer, die jeweils kaum länger als fünf Wochen die große Liebe ihres Lebens waren, ehe sie sich als Idioten und Versager herausstellten, aber die Entscheidung für einen Beruf war zumindest endgültig gefallen. Nach diversen Ausflügen in die Werbebranche und in die Redaktionen von Lifestyle-Magazinen hatte sie vor zwei Jahren beschlossen, Kinderpsychologin zu werden, und zog seitdem jedes Praktikum und jeden Fortbildungsgang ehrgeizig durch. Früher hätte ich nicht geglaubt, dass das etwas für sie sein würde, aber nachdem ich ihren herzlichen, unbekümmerten Umgang mit Aurora erlebt hatte, war ich mir sicher, dass sie hervorragend mit Kindern umgehen konnte. Sie war verspielt und auch ein wenig verrückt, brachte Aurora zum Lachen und schließlich auch dazu, ihr zu vertrauen.
Genauso wie ich ihr vertraute. Bei unserem Gespräch ging ich unruhig im Wohnzimmer auf und ab, während Nele auf der Couch lag und sich die Fußballen massierte.
Zunächst deutete ich nur vage an, dass Aurora sich seltsam verhielt, und
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