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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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Nele«, sagte Aurora. Ihre Stimme klang matt, schwach, vor allem aber niedergeschlagen. Meine Erleichterung schwand. Wo war das Kind geblieben, das einst schon voller Vorfreude aufgeregt im Treppenhaus gewartet hatte, wenn Nele zu Besuch kam?
    Ich trat langsam auf das Bett zu. Auroras Blick war wieder wach, wirkte aber verloren und traurig. Sie sah weder mich noch Nele an, sondern löste ihre Beine aus dem Schneidersitz, zog ihre Knie hoch und legte ihr Kinn darauf.
    »Was hast du denn eben gemacht?«, fragte Nele betont leichtfertig.
    Angespannt wartete ich auf die Antwort. Eigentlich rechnete ich damit, dass sie ausbleiben würde. Doch schließlich erklärte Aurora fast tonlos: »Nachgedacht.«
    Ich erwartete, dass Nele nachfragen würde. Aber stattdessen wechselte sie das Thema.
    »Sollen wir zusammen ein Buch lesen?«
    Aurora zuckte mit den Schultern. Ihre Hände krampften sich um ihre Beine. Sie wirkte schmächtiger und dünner als sonst.
    »Wenn du dazu keine Lust hast, dann können wir auch Theater spielen.«
    Nele hatte Aurora zum vierten Geburtstag ein Kasperletheater geschenkt, und seitdem war an jedem Geburtstag und Weihnachtsfest eine weitere Figur hinzugekommen. Nele konnte ihre Stimme hervorragend verstellen und sowohl der Prinzessin als auch dem Krokodil Leben einhauchen. Eigentlich war Aurora immer begeistert von diesen Aufführungen, doch nun zuckte sie wieder gleichgültig mit den Schultern.
    »Wir könnten auch ein Eis essen gehen«, schlug Nele vor und versuchte mitreißend zu klingen.
    Zögernd hob Aurora den Kopf. »Ich mag doch kein Eis mehr.«
    Es war dieses schlichte Wort, das mich am meisten erschreckt hatte.
    Kein Eis mehr .
    So, als hätte sich das Wesen des kleinen Mädchens, das man mit Süßigkeiten jeder Art locken konnte, unwiederbringlich gewandelt. Als würde sie all das, was ihr bisher immer Freude und Spaß gemacht hatte, nie wieder begeistern.
    »Vielleicht möchtest du etwas anderes essen«, meinte Nele.
    »Ich bin nicht hungrig.«
    »Was würdest du denn gerne machen?«
    Nele hob die Hand und strich über Auroras Locken. Sie wehrte sich nicht dagegen, aber ihr Körper versteifte sich.
    »Eigentlich wäre ich am liebsten allein.«
    Nele widersprach nicht. »Gut, dann lass ich dich in Ruhe.« Immer noch klang sie so herzlich und begeistert, als wäre Auroras abweisendes Verhalten das Selbstverständlichste auf der Welt.
    Erst als sie aufstand und zur Tür trat, wandelte sich ihr Gesichtsausdruck in Betroffenheit.
    Aurora versank nicht wieder in Trance. Sie saß in sich vergraben wie ein Häuflein Elend, als ich die Tür zu ihrem Zimmer schloss.

    So war die Entscheidung gereift, den Sommer in Hallstatt zu verbringen. Nele hatte mir vorerst von einem Psychiater abgeraten. So wie sie die Sache einschätzte, würde einem Arzt nichts anderes einfallen, als Pillen zu verschreiben, die Auroras Geist betäubten, anstatt ihn zu beleben. Vielleicht würde stattdessen eine Luftveränderung helfen, neue Lebenskräfte in ihr zu wecken, schlug Nele vor. Und wäre es nicht auch für mich gut, einmal rauszukommen? Lebte ich nicht schon viel zu lange in diesem Schneckenhaus?
    Ich hatte Nele zugestimmt – nicht, was das Schneckenhaus anbelangte, aber dass eine Luftveränderung Aurora gut tun könne. Mir war die Villa meines Vaters eingefallen, die seit so vielen Jahren leer stand, und hatte beschlossen, mich in die Renovierungsarbeiten zu stürzen.
    Und nun?
    Nun war es schon am ersten Abend zu diesem merkwürdigen Vorfall gekommen. Es ging mir nicht aus dem Kopf – wie Aurora sich versteift, wie ihre Zähne geklappert und wie sie voller Angst geflüstert hatte: Er ist da .
    Lange nach Mitternacht überkam mich schließlich doch der Schlaf. Es war ein unruhiger Schlaf. Wirre Träume verfolgten mich; Aurora tauchte darin auf, aber auch ein Wald, der aus Menschen zu bestehen schien. Aus dem dichten Geäst wurden Hände mit langen schwarzen Fingern, die nach mir griffen, aus den Wurzeln furchterregende Klauen, die meine Füße umklammerten, aus der rauen Rinde faltige Gesichter, die mich verhöhnten. Doch schließlich pochte mein müder Körper auf sein Recht. Die Träume verblassten, und ich versank in tiefste Schwärze.

    Ich wurde am nächsten Morgen von warmen Sonnenstrahlen geweckt, die schräg durch die Fensterläden fielen und in denen kleine Staubkörnchen tanzten.
    Ich streckte mich, fühlte mich ausgeruht, und erst als ich in der Küche stand und Wasser für den Kaffee kochte, musste ich

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